So kann doch nur jemand reden, dem bitteres Unrecht geschehen ist. Jemand, der immer nur eingesteckt, immer nur geschluckt hat. Bis es eben irgendwann zu viel, der innere Druck zu groß geworden ist. Bis zurückgehaltener Zorn hochkocht, Unzuträgliches emporschießt, sich Bahn bricht.
Im Fall Marine Le Pens muss besonders viel Unzuträgliches zusammengekommen sein. Seit Wochen ergeht sich die Chefin des Front National in Zorntiraden. Die Präsidentschaftskandidatin redet sich von der Seele, was sie „nicht mehr länger ertragen kann und will“, wie sie sagt. Die Stimme rau, die Miene resolut, nennt Le Pen Missstände und Schuldige. Sie stellt Konservative und Sozialisten an den Pranger, die einander seit Jahrzehnten an der Regierung ablösen. Einem blonden Racheengel gleich bezichtigt sie „die da oben“ der Verkommenheit, wirft ihnen vor, das Vaterland EU-Bürokraten, Ausländern, Kriminellen, Terroristen ausgeliefert zu haben. Der Zornesfunke springt leicht über. „Kein Islam, Frankreich den Franzosen, raus mit der Burka, Grenzen dicht“, schallte es im Wahlkampf tausendfach zurück.
Europas mächtigste Rechtspopulistin, die sich am Sonntag mit dem sozialliberalen Ex-WirtschaftsministerEmmanuel Macron ein Duell um den Einzug in den Élysée-Palast liefern wird, zeigt sich um das Wohl des Volkes besorgt. Aber die im Namen des Volkes bekundete Empörung ist eben auch die eigene. Sie ist echt. Und sie wurzelt tief. Wie bei in Äquatornähe tobenden Gewittern, wo die Schwüle nach einem Regenguss nicht weichen will, bleibt die Atmosphäre nach einem Zornesausbruch spannungsgeladen. Und Le Pen hat ja auch selbst von Leuten, die größer, die mächtiger waren als sie, viel eingesteckt, zu viel vermutlich.
Mit fünf Jahren bei der ersten Demo
Fünf Jahre alt ist sie, als Vater und Parteigründer Jean-Marie Le Pen mit ihr erstmals demonstrieren geht. Drei Jahre nach der frühkindlichen Einführung in die politische Praxis wird sie Opfer politischer Gewalt. Vor dem Domizil der Le Pens explodiert des Nachts eine Bombe. Marine wird körperlich unversehrt aus den Trümmern geborgen. Seelisch ist sie weniger glimpflich davongekommen. Die Ärzte diagnostizieren einen Schock. Wer die Attentäter waren, die dem rechtsextremistischen Vater nach dem Leben getrachtet haben dürften, sollte das Mädchen nie erfahren. Aber dass er Aggression und Hass auf sich zieht, das begreift es. Die Familie hat Glück im Unglück. Sie findet ein neues Domizil. Ein dem Front National zugetaner Zementunternehmer hinterlässt den Le Pens im noblen Pariser Vorort Saint-Cloud eine imposante Villa, Park und Blick auf den Eiffelturm inklusive. Geborgenheit will sich freilich auch dort nicht einstellen. Marine und ihre beiden älteren Geschwister wachsen in einer separaten Wohnung auf, betreut von einem Kindermädchen. Die Mädchen bekommen die reiselustigen Eltern oft lange Zeit nicht zu Gesicht.
In der Schule erweist sich der Name Le Pen als Stigma. Marine schlägt Verachtung entgegen. Ein Lehrer lässt sie unter Aufsicht ein gegen den Vater ergangenes Urteil studieren. Der Verherrlichung von Kriegsverbrechen war der FN-Chef schuldig gesprochen worden.
Als Marine 16 ist, brennt die Mutter Pierrette mit ihrem Liebhaber durch, dem Biografen des Vaters. Der hintergangene Gatte dreht der Treulosen den Geldhahn zu, quittiert Unterhaltsforderungen mit der Aufforderung, Pierrette könne sich doch als Putzfrau verdingen. Das ehemalige Pin-up-Girl geht dann tatsächlich putzen, aber nicht so, wie der gehörnte Ehemann und sittenstrenge Front-National-Gründer sich das vorgestellt hatte. Für „Playboy“-Fotografen schwingt sie lasziv den Besen, am Leib kaum mehr als das Haushaltshilfen einst zugedachte Häubchen. Marine krampft es Herz und Magen zusammen. Doch das hilft ihr wenig. Sie wird die Mutter 15 Jahre nicht mehr zu sehen bekommen. Als sie später selbst Mutter wird, erweisen sich die Bande zu den Lebensgefährten ebenfalls als brüchig. Aus zwei Ehen gehen drei Kinder hervor, die Marine Le Pen, zweifach geschieden, letztlich als Alleinerziehende großzieht.
Fähig, auch zu feiern
Was nicht heißt, dass sie verbittert wäre. Wenn es etwas zu feiern gibt, dann erinnert sie an die Wirtin eines Landgasthofs: derb im Umgang, aber das Herz am rechten Fleck. Und es gibt in letzter Zeit viel zu feiern. Der Front National legt kontinuierlich zu. Bei den Europawahlen 2014 mit 25 und im Jahr darauf bei den Regionalwahlen mit 27 Prozent der Stimmen bedacht, ist er zur stärksten politischen Kraft avanciert.
Und auch wenn die Politikerin sich hütet, dies im Präsidentschaftswahlkampf zu offenbaren: Manchmal wird sie schwach. Wie ein kleines Mädchen, das an Verbotenem nascht, gönnt sie sich dann die Freuden des bei klarem Kopf zutiefst verdammten Elitendaseins. So ist sie, vom US-Magazin „Time“ zu einer der hundert einflussreichsten Persönlichkeiten der Erde gekürt, im Frühjahr 2015 zum Galaempfang nach New York gereist. Mit dem Rapper Kanye West, seiner Gefährtin Kim Kardashian und anderen Promis ist sie im marineblauen Kleid über den roten Teppich marschiert.
Kraft aus den Verletzungen
Aber auch wenn sich Le Pen den Freuden des Lebens nicht gänzlich verschließt, ihre Kraft schöpft sie aus den Verletzungen, die es ihr zugefügt hat. Wenn sie ihrem Zorn freien Lauf lässt, bersten vom Gegner errichtete Dämme. Im Frühprogramm von „France Info“ war das kürzlich zu erleben. Der Nachrichtensender hatte drei seiner besten Leute aufgeboten, die Le Pen in ihre Schranken weisen sollten.
Die Journalisten konfrontierten die Politikerin damit, dass sie den Anteil der an Ausländer vergebenen Sozialwohnungen mit 50 Prozent beziffert hat, der laut Statistik doch nur zwölf Prozent beträgt. Die Wucht der Widerrede ist zu groß, der Ausstoß aus altbewährten Argumentationskanälen zu heftig, als dass die Fragesteller standhalten könnten. „Man sieht, dass Sie Ihr Studio nie verlassen und noch nie draußen in den Vorstädten waren, wo der Sozialwohnungsbestand durchaus zur Hälfte in ausländischer Hand ist“, beginnt Le Pen. Ungeheuer routiniert pariert diese Frau die ihr seit Jahrzehnten entgegenschlagenden Angriffe. Die Botschaft des Front National ist im Kern ja auch dieselbe geblieben, Kritik und Replik folgen altbekannten Mustern. Wobei sich Marine Le Pen zugutehalten kann, das Parteiprogramm von Ewiggestrigem befreit und zeitgemäß verpackt zu haben.
Emanzipation der Tochter
Was der Vater und Gründer des Front National als offen rassistische, anti-semitische Protestbewegung ins Leben gerufen hatte, ist unter der Führung der Tochter, die ihn 2011 politisch beerbte, zu einer weithin salonfähigen Volkspartei mutiert. Anders als der Vater will die Tochter nicht genüsslich provozieren. Sie will die Macht.
Die Fremdenfeindlichkeit ist mittlerweile gefällig verpackt. Nationalisten nennen sich Patrioten. Misstrauen gegenüber Muslimen kommt als Sorge um Frankreichs weltliche Staatsordnung daher. Der Fortschritt ist Marine Le Pen freilich teuer zu stehen gekommen. Mit dem Vater, der den Wandel des FN von der Protest- zur Volkspartei nicht mittragen wollte, hat sie sich überworfen.
Bruch mit dem Vater
Zum Bruch kommt es, als der Vater 2015 rückfällig wird, die Gaskammern der Nazis wieder einmal als „Detail der Geschichte“ verharmlost. Die Tochter, die ihr politisches Lebenswerk in Gefahr sieht, lässt ihn aus der Partei ausschließen. Was dem Vater Gütesiegel war, ist ihr ein Makel, an dem die umworbene bürgerliche Mittelschicht Anstoß nehmen mag, deren Voten sie braucht, will sie es auf die absolute Mehrheit bringen und in den Élysée-Palast einziehen.
Das von offen rechtsradikalen Inhalten befreite Restprogramm birgt freilich noch immer jede Menge Sprengstoff: den Ausstieg aus dem Euro zumal. Wirtschaftsexperten glauben, dass gerade die von Le Pen umworbenen einkommensschwachen Schichten darunter zu leiden hätten. Ein bisschen hat sie deshalb in den vergangenen Tagen ihre Aussagen zum Ausstieg aus dem Euro abgeschwächt.
Axel Veiel / Paris