Bundeskanzler Christian Kern hat sich für ein EU-weites Verbot von Wahlkampfauftritten türkischer Politiker ausgesprochen. "Eine gemeinsame Vorgehensweise der EU, um solche Wahlkampfauftritte zu verhindern, wäre sinnvoll", sagte Kern der "Welt am Sonntag". "Damit nicht einzelne Länder wie Deutschland, in denen Auftritte untersagt werden, unter Druck der Türkei geraten".
Die Regierung in Ankara will Minister nach Deutschland schicken, um für die von Präsident Recep Tayyip Erdogan angestrebte Verfassungsänderung zu werben. Mehrere solche Veranstaltungen wurden von den jeweiligen Gemeinden aber abgesagt, was in der Türkei für erheblichen Unmut sorgt.
Mit Blick auf die geplante Verfassungsänderung in der Türkei kritisierte Kern, dass "die Einführung eines Präsidialsystems den Rechtsstaat in der Türkei noch weiter schwächen, die Gewaltenteilung einschränken und den Werten der Europäischen Union widersprechen würden".
Boden der Rechtsstaatlichkeit
Kern kritisierte zudem den türkischen Präsidenten angesichts der anhaltenden Verhaftungen von Oppositionellen in der Türkei: "Präsident Erdogan muss endlich auf den Boden der Rechtsstaatlichkeit zurückkehren, von dem er sich zuletzt immer weiter entfernt hat". Der österreichische Regierungschef warf Ankara vor, "Menschenrechte und demokratische Grundrechte mit Füßen" zu treten.
Pressefreiheit sei ein Fremdwort in dem Land am Bosporus, sagte Kern. Das zeige auch die Inhaftierung des deutsch-türkischen Journalisten Deniz Yücel und weiterer Journalisten und Wissenschaftler. "Das ist schockierend", sagte Kern. Yücel habe unabhängig und kritisch über die Türkei berichtet. "Die Türkei muss Herrn Yücel umgehend frei lassen. Wir erwarten, dass Ankara eine Minimaldosis an Rechtsstaatlichkeit einhält." Yücel ist derzeit in der Türkei in Haft. Erdogan hatte den Korrespondenten der Tageszeitung "Die Welt" als "deutschen Agenten" bezeichnet. Die deutschen Behörden beschuldigte er der Unterstützung des Terrorismus in der Türkei.
Kern bekräftigte in diesem Zusammenhang seine Forderung nach einem sofortigen Abbruch der EU-Beitrittsgespräche mit der Türkei: "Wir sollten die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei nicht nur vorübergehend aussetzen, sondern beenden. Wir können nicht weiter mit einem Land über eine Mitgliedschaft verhandeln, das sich seit Jahren Schritt für Schritt von demokratischen Standards und rechtsstaatlichen Prinzipien entfernt."
Auch die Vorbeitrittshilfen von 4,5 Milliarden Euro bis zum Jahr 2020 sollten umgehend gestrichen oder als Druckmittel für politische Reformen verwendet werden. "Wir sollten die Beziehungen zur Türkei neu ausrichten, ohne die EU-Beitrittsillusion", sagte Kern.