"Meine geliebte Familie, bitte vergebt mir", steht auf dem handgeschriebenen Brief, der auf einem ehemaligen Trainingsgelände des IS im Ostteil von Mossul zurückgelassen wurde. Es ist der Abschiedsbrief des Schülers Alaa Abd al-Akidi an seine Eltern, bevor er sich vergangenes Jahr in einem Selbstmordattentat gegen irakische Sicherheitskräfte in die Luft sprengte.
"Seid nicht traurig und tragt nicht die schwarzen Trauergewänder", schreibt Akidi weiter. "Ich habe euch gebeten heiraten zu dürfen, und ihr habt mich nicht verheiratet. Nun werde ich, so Gott will, die 72 Jungfrauen im Paradies heiraten." Der Brief, der nie abgeschickt wurde, ist auf einem IS-Formular mit dem Aufdruck "Kampfeinheit, Märtyrerbrigade" geschrieben und steckt in einem an die Eltern in Mossul adressierten Umschlag. Das Schreiben gehört zu IS-Dokumenten, die Reuters nach der Rückeroberung des östlichen Teils von Mossul dort gefunden hat.
Akidi ist einer von Dutzenden Jugendlichen, die das Trainingscamp in den vergangenen zweieinhalb Jahren durchlaufen haben. Als er sich dem IS anschloss, war er 15 oder 16 Jahre alt. Der IS braucht viele sogenannte Märtyrer für Selbstmordanschläge, die eine seiner effektivsten Waffen gegen die von den USA unterstützte Koalition seiner Gegner sind. Der IS hat im Nahen Osten Hunderte Selbstmordanschläge verübt, sowohl gegen Zivilisten als gegen Soldaten. Aus einem ebenfalls in dem Gebäude zurückgelassenen Register mit persönlichen Daten von 50 IS-Rekruten geht hervor, dass viele von ihnen noch Teenager oder in ihren frühen Zwanzigern waren. Insgesamt haben die Jihadisten allein in Mossul, wo sie 2014 ihr Kalifat im Irak und Syrien ausriefen, Tausende junge Kämpfer angeworben.
IS-Trainingsgelände
Das verlassene IS-Trainingsgelände besteht aus drei Häusern, die die Extremisten von Einwohnern Mossuls beschlagnahmt hatten. Um sich schneller zwischen den Gebäuden bewegen zu können, haben die Extremisten menschengroße Löcher in die Mauern geschlagen. In den unteren Stockwerken liegen IS-Poster und Flugblätter zu Religion und Waffenkunde herum, daneben Prüfungsbögen mit Fragen zu Waffenkunde und dem Koran. In einem Raum liegen Zielscheiben und kugelsichere Westen, in einem anderen, der wohl als Lazarett diente, Medikamente und Spritzen. Grüne Wandfarbe und Betttücher vor den Fenstern sollten den Blick ins Innere der Gebäude erschweren. Die Räume in den oberen Stockwerken sind mit Feldbetten vollgestellt und bieten Platz für 100 Kämpfer. Auf Schildern prangen Hausregeln wie: "Jihad-Bruder, achte auf Ruhe und Sauberkeit."
Die meisten der aufgelisteten Rekruten stammen aus dem Irak, aber es sind auch einige aus den USA, dem Iran, Marokko und Indien darunter. Akidi schloss sich der Liste zufolge am 1. Dezember 2014 den Jihadisten an, einige Monate nach ihrer Einnahme Mossuls. Ein Verwandter erzählte Reuters am Telefon, dass Akidis Vater erschüttert auf die Entscheidung seines Sohnes reagiert habe, aus Angst vor Rache des IS allerdings nicht versucht habe, ihn zurückzuholen. Akidi besuchte seine Familie nur selten, nachdem er sich dem IS angeschlossen hatte. Dem Verwandten zufolge, der seinen Namen aus Angst vor Vergeltung nicht nennen will, sagte Akidi seinem Vater, dass er als Märtyrer sterben werde. Er sollte sich, wie er seinem Vater erzählte, bei einem Selbstmordanschlag nahe der südlich von Mossul gelegenen und immer wieder heftig umkämpften Ölstadt Baidji in die Luft sprengen. Einige Monate später teilt der IS der Familie mit, dass ihr Sohn "erfolgreich" gewesen sei.
Ein anderer Rekrut in der Kartei ist Athir Ali, etwa gleich alt wie Akidi. Das Passfoto zeigt einen Burschen mit buschigen Augenbrauen und großen braunen Augen. Er trägt eine dunkle Tunika und lächelt schüchtern. Sein Vater Abu Amir erzählt, sein Sohn sei ein hervorragender Schüler mit naturwissenschaftlicher Begabung gewesen, der immer den Fernsehsender National Geographic geschaut habe. Eines Tages sei Ali abgehauen und habe sich zusammen mit sieben Klassenkameraden dem IS angeschlossen. Der Vater hat seinen Sohn seitdem nicht mehr lebend wiedergesehen. Einige Monate später fahren IS-Kämpfer vor seinem Haus vor, um ihm zu sagen, dass Ali ein Held sei und bei einem Luftangriff umgekommen sei. Abu Amir holt den Toten aus einer Leichenhalle ab. Der Bursch hatte sich während seiner Zeit beim IS die Haare wachsen lassen, aber für Bartwuchs war er noch zu jung. "Ich kann mir immer noch nicht erklären, wie sie ihn überzeugt haben, für sie zu kämpfen", sagt der Vater. "Ich bin nur froh, dass wir ihn beerdigen konnten." Die Verwandten, die sich im Wohnzimmer der Familie versammelt haben, sind davon überzeugt, dass Ali einer Gehirnwäsche unterzogen wurde.
Auch Shit Omar war 15 oder 16 Jahre alt, als er sich den Jihadisten anschloss. Neben seinem Eintrag in der Kartei ist der Zusatz "hat Märtyreroperation ausgeführt" vermerkt. Shalal Junis, der Schwiegervater von Omars Schwester bestätigt, dass der Bursch einen Selbstmordanschlag verübt hat. Der Teenager sei übergewichtig und unsicher gewesen und habe sich dem IS nach dem Tod seines Vaters angeschlossen. "Sie haben ausgenutzt, dass er psychisch labil war, haben ihm Jungfrauen versprochen und ihm beigebracht, wie sich ein guter Muslim verhalten soll", sagt Junis. "Wenn ihn jemand mit Drogen und Alkohol verführt hätte, dann hätte er sich vermutlich dafür entschieden."