Für den Alltag mit den USA als Nachbarn hatte Pierre Trudeau, Justins Vater, einen anschaulichen Vergleich parat: "Neben Ihnen zu leben, ist auf gewisse Weise, wie neben einem Elefanten zu schlafen", sagte der frühere kanadische Premierminister 1969 vor US-Journalisten. "Egal wie freundlich und ausgeglichen das Tier auch sein mag, man ist von jedem Zucken und Brummen betroffen."
An diese Worte seines Vaters Pierre dürfte sich Kanadas aktueller Premier Justin Trudeau dieser Tage erinnern, wenn er sein Verhältnis zum neuen US-Präsidenten Donald Trump auslotet. Vorbei sind die Zeiten des kumpelhaften Nebeneinanders, als Trudeau und Trumps Vorgänger Barack Obama bei gemeinsamen Auftritten wie Sunny Boys aus Jugendtagen in die Kameras lächelten. Zum Antritt des Obama-Nachfolgers im Weißen Haus hat Trudeau sein Kabinett umgekrempelt. In Ottawa lautet die Frage nun: Kuschelkurs oder Konfrontation?
Trudeau übt den Spagat
Vermutlich beides, Trudeau übt den Spagat. Einerseits will er an dem von Trump als "unfair" kritisierten grenzübergreifenden Handel festhalten. Chrystia Freeland, die für das Freihandelsabkommen CETA zwischen Kanada und der EU gekämpft hatte, steht als neue Außenministerin in den Startlöchern, um den Dialog mit Washington zu pflegen. Sie und der neue Handelsminister Francois-Philippe Champagne sollen dafür sorgen, dass das Freihandelsabkommen NAFTA mit den USA und Mexiko unter Trump nicht komplett den Bach runtergeht.
Andererseits darf Trudeau dabei nichts überstürzen. Mögliche Konflikte um NAFTA, Fragen zu gemeinsamer Grenze und Migration, Klimapolitik und dem Bau der Öl-Pipeline Keystone XL muss er behutsam angehen. "Mein Ratschlag ist, sich nicht zu ängstigen, nicht in Panik zu verfallen, cool zu bleiben", sagt Kanadas früherer Premierminister Brian Mulroney (1984-1993) laut einem BBC-Bericht. "Wir werden Differenzen haben, das hatten wir immer."
Entsprechend vorsichtig formuliert sind die Statements, die Trudeau aus seinem Büro im Langevin Block in Ottawa verschicken lässt. Die beiden Nachbarn hätten "solide Handels- und Investitionsbeziehungen und integrierte Wirtschaften, die Millionen kanadischer und amerikanischer Jobs absichern", rief Trudeau im Jänner zur Vereidigung Trumps in Erinnerung. Das waren sanfte Töne im Vergleich zu Trump, der laut gepoltert hatte, NAFTA (Nordamerikanisches Freihandelsabkommen) lockern oder gar ganz kippen zu wollen, und nach seinem Amtsantritt prompt ein entsprechendes Dekret ankündigte.
Droht das Nede von NAFTA?
Rechtlich hätte Trump vermutlich sogar die Macht, ganz ohne den US-Kongress aus dem seit 1994 geltenden Abkommen auszutreten. Jedes der drei NAFTA-Länder - also die USA, Kanada und Mexiko - dürfen "sechs Monate nachdem der Austritt den anderen Parteien schriftlich mitgeteilt wurde austreten", heißt es in Artikel 2205. Für die beiden anderen Länder bliebe das Abkommen dann in Kraft. Da auch für Trump viel auf dem Spiel steht, ist wahrscheinlicher, dass er Druck aufbaut, um einzelne Bedingungen der Vereinbarung neu auszuhandeln.
Doch Trump ist in seinen ersten Amtswochen unberechenbar. "Warum einen Grizzlybären beim Mittagessen stören?", fragte das Magazin "Newsweek". "Trump hat gerade erst das Amt aufgenommen und formuliert seine wirtschaftlichen Pläne." Für Trudeau würden die kommenden Jahre ein Hochseilakt, meint die Zeitschrift. Früher oder später werde ein ernstes Gespräch zwischen den beiden wohl unumgänglich sein.
Der Stern Trudeaus sinkt
Denn auch zu Hause gerät Trudeau, der lange als kanadischer John F. Kennedy gefeiert wurde, unter Beschuss. "Die Flitterwochen sind vorbei", bilanzierte das Magazin "MacLeans" im November nach Trudeaus erstem Jahr als Premier. Wenn er nicht wie der mexikanische Präsident Enrique Pena Nieto zum Buhmann werden wolle, der Trump trotz dessen scharfer Rhetorik gegen Mexikaner und dem angedrohten Bau einer Grenzmauer umschmeichelte, werde der liberale Politiker bald Zähne zeigen müssen.
Zu spüren sind die nordamerikanischen Spannungen mit Blick auf die Einwanderungspolitik schon jetzt. Der Angriff auf eine Moschee in Quebec mit sechs Toten diente dem Weißen Haus als weitere Rechtfertigung des weltweit kritisierten US-Einreisestopp gegen sieben mehrheitlich muslimische Länder. Trump habe damit "proaktiv" gehandelt anstatt abzuwarten, sagte sein Sprecher Sean Spicer nach der Attacke. Dass der mutmaßliche Angreifer Alexandre Bissonnette ein Weißer französisch-kanadischer Abstammung ist, sagte er nicht.