Schwierig waren die EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei seit deren Beginn im Herbst 2005 fast immer. Doch standen die österreichischen Regierungen mit ihrer harten Linie gegenüber der Türkei meist allein auf weiter Flur. Jetzt haben Kanzler Christian Kern und Außenminister Sebastian Kurz einen Verbündeten gefunden. Denn das EU-Parlament wird heute eine Resolution verabschieden, in der es fordert, die Beitrittsverhandlungen auf Eis zu legen. Grund sind mehr als 110.000 entlassene Richter, Staatsanwälte, Polizisten, Lehrer und öffentlich Bedienstete seit dem gescheiterten Putsch im Juli, Tausende Verhaftungen von Militärs, Journalisten und Oppositionspolitikern seither sowie der Ausblick auf die Wiedereinführung der Todesstrafe.
Die Abgeordneten gehen damit zwar nicht so weit wie die Regierung in Wien, die auf einen Abbruch der Beitrittsverhandlungen abzielt. Und ihr Votum ist auch nicht bindend. Doch verleiht es der Skepsis gegenüber dem Vorgehen des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoan starkes politisches Gewicht. Der sagte schon vorab, dass die Erklärung des EU-Parlaments für ihn „wertlos“ sei und das Ziel der Mandatare offenbar der „Schutz von Terroristen“ in der Türkei.
Doch genau genommen sei ein Einfrieren der Beitrittsverhandlungen eine „Formalisierung des Status quo“, meint der ÖVP-Delegationsleiter im EU-Parlament, Othmar Karas.
Gespräche stottern
Tatsächlich haben die Gespräche bereits im ersten Jahr zu stottern begonnen, weil sich Ankara bis heute weigert, das EU-Land Zypern als Staat anzuerkennen. Stattdessen anerkennt die Türkei weltweit alleine die „Türkische Republik Nordzypern“. Acht zentrale Verhandlungskapitel hat die EU deshalb eingefroren. Zahlreiche Anläufe für die Wiedervereinigung der Insel sind gescheitert – der letzte erst diese Woche.
Die folgenden Jahre schleppten sich die Verhandlungen dahin, gerade einmal 16 von 35 Kapiteln konnten aufgeschlagen werden, nur ein einziges wurde abgeschlossen. Neuer Schwung schien im Vorjahr einzukehren: Im Abtausch dafür, dass die Türkei Flüchtlinge von Europa fernhält, wurden ihr Fortschritte in den Beitrittsverhandlungen, Visaerleichterungen und finanzielle Hilfe bei der Versorgung der mehr als 2,7 Millionen Flüchtlinge im Land in Aussicht gestellt, die zu großen Teilen aus Syrien kommen. Sechs Milliarden Euro sollten es bis Ende 2018 sein, 677 Millionen Euro wurden bereits überwiesen.
Visaerleichterungen
Doch gerade die Visaerleichterungen sind auch an Bedingungen geknüpft – zum Beispiel die Änderung der umstrittenen Anti-Terror-Gesetzgebung, die Erdoan für die Säuberung des Staatsapparats und der Medienlandschaft nützt. Weil die EU mangels Erfüllung dieser Kriterien wohl von den Visaerleichterungen absehen muss, hat der türkische Präsident angekündigt, „keinen EU-Beitritt um jeden Preis“ anzustreben. Stattdessen könne er sich eine Umorientierung in Richtung Russland und China vorstellen. Zudem wackle der Flüchtlingsdeal, der die Zuwanderung in die EU stark eingedämmt hat.
Unter den anderen EU-Ländern hat Österreich daher kaum Unterstützung. Und auch die EU-Parlamentarier lassen eine Tür offen: Sollte eines Tages der Ausnahmezustand aufgehoben, die Rechtsstaatlichkeit restituiert und die Menschenrechte in der Türkei wieder gewahrt sein, werde man die Lage neu bewerten, heißt es in ihrer Erklärung, die von den sechs größten Fraktionen im EU-Parlament mitgetragen wird.
Wobei man sich in der EU einig ist: Sollte Erdoan wirklich die Todesstrafe wieder einführen, bedeutete das das Ende der Beitrittsverhandlungen.
Wolfgang Tucek