Zunächst kam die gute Nachricht: Nach mehr als drei Monaten Gefängnis hat ein Gericht in Istanbul die Entlassung der türkischen Schriftstellerin Asli Erdogan aus der Untersuchungshaft angeordnet.
Bald aber folgte die Relativierung: Ungeachtet der Gerichtsanordnung muss diese weiter in Haft bleiben. Das teilte ihr Anwalt nach Angaben der Nachrichtenagentur AFP heute (Mittwoch) mit.
Laut der Zeitung "Hürriyet Daily News" wurde zwar die Anklage wegen des Versuchs der "Zerstörung der staatlichen Einheit" mangels an Beweisen fallengelassen, die Ermittlungen wegen Mitgliedschaft in einer Terrororganisation werden jedoch fortgesetzt. Deshalb müsse die Autorin im Gefängnis bleiben. Das selbe gelte für die ebenfalls inhaftierte Linguistin Necmiye Alpay,
Auch der Herausgeber der pro-kurdischen Zeitung "Özgür Gündem", Inan Kizilkaya, und Chefredakteur Zana Kaya bleiben in Haft. Der Prozess soll am 29. Dezember beginnen. Die Staatsanwaltschaft hat für insgesamt neun Angeklagte, darunter Erdogan und Alpay, lebenslange Haft gefordert.
Die Autorin war im Rahmen einer Razzia gegen Unterstützer der pro-kurdischen Zeitung "Özgür Gündem" Mitte August festgenommen worden, wenig später wurde Haftbefehl erlassen. Sie schrieb unter anderem Kolumnen für die inzwischen geschlossene "Özgür Gündem".
Die 1967 in Istanbul geborene Erdogan ist auch international bekannt. Ihre Bücher wurden unter anderem im Züricher Unionsverlag publiziert. Erdogan hatte zunächst Informatik und Physik studiert und arbeitete von 1991 bis 1993 als Physikerin am europäischen Kernforschungszentrum CERN in Genf.
Für ihre Freilassung hatten sich unter anderem deutsche Verleger und Schriftsteller eingesetzt. Unter anderem entrollte vor gut einer Woche bei einer Protestaktion in Istanbul der Hauptgeschäftsführer des Börsenvereins des deutschen Buchhandels, Alexander Skipis, vor dem Frauengefängnis Bakirköy ein Banner zugunsten der 49-Jährigen.
Die Autorin hat keine verwandtschaftlichen Verbindungen zu Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan. Sie gehört zu den bekanntesten türkischen Autorinnen. Zu ihren Romanen zählt "Die Stadt mit der roten Pelerine". Die Autorin leidet an Asthma und Diabetes. Sie saß bis Mittwoch 97 Tage im Gefängnis.
Asli Erdogan war in Graz von August 2012 bis Sommer 2013 "writer in exile". Im Rahmen des Projekts "writer in exile" gewähren Städte verfolgten Schriftstellern einen zeitlich begrenzten, sicheren Aufenthalt, während dem sie sich ihrer Arbeit widmen können.
Porträt
"Eine außergewöhnlich feinfühlige und scharfsichtige Autorin, ihre Romane sind vollendete Werke.“ Sagt kein Geringerer als Orhan Pamuk. Der Literaturnobelpreisträger aus 2006 ist wegen seiner kritischen Haltung - etwa in der Armenien-Frage - selbst immer wieder Zielscheibe türkischer Nationalisten.
Nach dem Putschversuch in der Türkei hatte der nun noch längere Arm der Regierung Pamuks Kollegin erwischt: Asli Erdogan. Die Schriftstellerin wurde Mitte August in ihrer Wohnung in Istanbul festgenommen. Gleichzeitig kamen 23 Journalisten der kurdischen Zeitung „Özgür Gündem“ in Haft, in der die 49-Jährige regelmäßig veröffentlicht und im Beratungsrat sitzt.
Bevor Erdogan zu schreiben begann, hatte sie als erst 24-jährige Physikerin am Higgs-Teilchen mitgeforscht, das man ja am Cern in Genf 2012 tatsächlich fand, und auch in Rio de Janeiro als Wissenschaftlerin gearbeitet. In ihrem Roman „Die Stadt mit der roten Pelerine“ schildert sie die Odyssee einer introvertierten türkischen Jungakademikerin in den Labyrinthen der brasilianischen Metropole, in der ihr so fremden Kultur und Gesellschaft.
Schon 2011 wurde es für Systemkritiker wie Erdogan durch die Willkür türkischer Behörden zu brenzlig, also suchte sie Schutz in Zürich, Paris und - 2012/13 als „Writer in exile“ - in Graz. „Wie eine Hirtenflöte, die alle Wörter der Stadt zu sich ruft, stehe ich vor dem Fenster der Existenz und suche mir ein Schicksal. Hier wünsche ich mir von der Ewigkeit des Fegefeuers noch einen Morgen“, hatte Asli Erdogan in einer Kolumnenserie in der „Neuen Zürcher Zeitung“ geschrieben. Dennoch blieb sie auch nach ihrer Rückkehr an den Bosporus als Kämpferin für Minderheiten, für Verfolgte, für Frauenrechte mutig immer nah am Feuer. Das allerdings züngelt mit dem Putschversuch in der Türkei und den Gegenschlägen der Regierung von Recep Tayyip Erdogan höher denn je.
Michael Tschida