Der Zustand der Europäischen Union ist nach Ansicht von EU-Parlamentspräsident Martin Schulz nicht gut. "Die Situation ist besorgniserregend", sagte Schulz am Donnerstag bei der Diskussion "Stimmen der Zukunft Europas" in Wien. Schulz plädierte für eine klarere Kompetenzverteilung und "fundamentale Reform", notfalls über eine EU-Vertragsänderung. Der Mut dazu sei aber begrenzt.
"Wir haben zentrifugale Kräfte in der EU", so Schulz. Die Idee, dass Staaten und Nationen über Grenzen auf Augenhöhe zusammenarbeiten, "gilt heute als verhandelbar, sogar als altmodisch". Dadurch sei Europa gefährdet. Gerade in einem globalisierten Zeitalter ziehe sich Europa zurück, "statt diese Herausforderung anzunehmen". Das Grundproblem sei kein europäisches Phänomen: "Die Leute vertrauen Institutionen nicht mehr." Dieses Vertrauen könne durch eine bessere Kompetenzverteilung zurückgewonnen werden.
Schulz: Zustand der EU ist "besorgniserregend"
Für EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker ist die Lage der Europäischen Union dagegen "schwer zu beschreiben". Juncker: "Die Wirklichkeit ist, dass vieles gut funktioniert, davon redet niemand." Vieles funktioniere aber auch nicht. Vieles würde für selbstverständlich genommen.
"Denken, wir wären die Herren der Welt"
Juncker warnte, dass auch die Frage von Krieg und Frieden ausgeblendet werde. "Der Krieg ist an unseren Grenzen angekommen", sagte Juncker in Hinblick auf Syrien und die Ukraine. Europa sei aber auch der kleinste Kontinent, "wir denken immer, wir wären die Herren der Welt". Auch der Anteil Europas an der Weltwirtschaft werde weiter zurückgehen. Daher dürfe man jetzt nicht mit der europäischen Integration aufhören. "Wenn ich nicht Luxemburger wäre, würde ich vor der Kleinstaaterei warnen". Deutschland und Frankreich seien zwar kleine Länder, aber "andere auch, Herr Bundeskanzler", sagte Juncker in Richtung von Kanzler Christian Kern (SPÖ).
Kern schloss sich der Analyse von Schulz an. Europas Zustand mache unzweifelhaft nachdenklich. Man vergesse aber oft, "dass wir nach wie vor der stärkste Wirtschaftsraum der Welt sind." Auch Österreich verfüge über einen bisher nie da gewesenen Wohlstand.
"Wir vergessen die, die nicht profitieren"
Kern sieht die Herausforderung der Zukunft in der unglaublichen Beschleunigung, die durch Globalisierung und Technologieentwicklung eingetreten sei. Dazu komme noch die Migration. Europa vermittle aber den Eindruck, dass es nur um Wettbewerbsfähigkeit gehe, "und nur noch eine Stimme zählt - die des Entrepreneurs". Man vergesse dabei jene, Menschen, die nicht von der Wohlstandsentwicklung profitierten. Es gebe eine direkte Linie vom Brexit zu Marine Le Pen und dem Rechtspopulismus bis zu Donald Trump.
Menschen würden die Versprechen der EU nach Sicherheit und Wohlstand nicht mehr kaufen, sagte Kern. Deklassierte Menschen erwarteten nicht, dass Trumps ihre Probleme lösen, sondern wollten die wirtschaftlichen und politischen "Eliten auf den Knien sehen". Der Brexit werde die EU zwingen, diese Grundsatzfragen zu beantworten. "Wenn uns das nicht gelingt, werden wir erst Recht von einer Krise reden."
"Wir sind reicher als je zuvor"
Vizekanzler und Wirtschaftsminister Reinhold Mitterlehner (ÖVP) sagte: "Wir müssen begreifen, dass wir Europa sind." Man brauche nicht eine EU, die vorschreibe, welche Allergene verträglich seien, sondern eine EU für die großen Lösungen. Mitterlehner sagte, er "glaube nicht, dass wir die Wohlstandsversprechen nicht einhalten oder ein Umverteilungsproblem haben." Mitterlehner: "Wir sind reicher als je zuvor."