Außenminister Sebastian Kurz (ÖVP) warnt mit Blick auf die Volksabstimmung über die europäische Flüchtlingspolitik in Ungarn vom Sonntag vor einer Verurteilung der Politik des nationalkonservativen ungarischen Premiers Viktor Orban. Die EU solle trotz bestehender Beschlüsse nicht länger an einer Umverteilung von Flüchtlingen auf alle Mitgliedstaaten festhalten, so Kurz in der "Welt am Sonntag".
Mitteleuropäische Staaten hätten in der Flüchtlingsfrage den Fehler gemacht, ihre Linie den anderen Staaten in der Europäischen Union aufzwingen zu wollen, meinte der 30-Jährige gegenüber der deutschen Zeitung. "Es ist gefährlich, wenn einige Staaten in der Europäischen Union den Eindruck erwecken, anderen Mitgliedsländern moralisch überlegen zu sein", so Kurz. "Wäre unser oberstes Ziel von Anfang an nicht die Verteilung von Flüchtlingen, sondern der Schutz der Außengrenzen gewesen, dann hätte es dieses Referendum in Ungarn vermutlich niemals gegeben." Staaten wie Ungarn, Polen und die Slowakei hätten die "Einladungspolitik von Beginn an nie unterstützt".
"Gefährlicher Spaltpilz"
"Wir sollten nicht den Eindruck erwecken, dass es in Europa zwei verschiedene Klassen von Mitgliedern gibt." Die Quoten-Debatte könne den Zusammenhalt der EU gefährden. "Sie ist ein gefährlicher Spaltpilz, der für Unruhe, Missverständnisse und Anfeindungen sorgt". Die quotierte Umverteilung funktioniere nicht, weil viele Länder nicht bereit seien, eine hohe Zahl an Flüchtlingen aufzunehmen. "Ein weiterer Grund ist aber auch, dass viele Flüchtlinge sich weigern, in bestimmte EU-Länder zu gehen." Sollten die 160.000 Flüchtlinge weiterhin in demselben Tempo wie bisher auf die EU-Länder verteilt werden, dauerte das 30 Jahre.
Harsche Kritik an Merkel
Der Außenminister ließ in diesem Zusammenhang zudem mit scharfen Worten gegenüber der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) aufhorchen. Merkel hatte angekündigt, dass Deutschland bald monatlich mehrere hundert Flüchtlinge aus Griechenland und Italien aufnimmt. "Diese Politik ist falsch", sagte Kurz der "Welt am Sonntag".
Ziel sei offenbar, die beiden Mittelmeerländer zu entlasten. Aber erreicht werde leider das Gegenteil - nämlich vermutlich noch mehr Flüchtlingsandrang nach Griechenland und Italien. Solange man Migranten das Gefühl gebe, dass es sich lohne nach Italien und Griechenland zu kommen, weil man am Ende in Deutschland lande, "fördert man das Geschäft der Schlepper und löst weitere Flüchtlingsströme aus", sagte er.
Eine andere Position zum Ungarn-Referendum nahm EU-Parlamentspräsident Martin Schulz ein. Der SPD-Politiker kritisiert die Volksabstimmung. "Ungarn müsste nach dem Verteilungsschlüssel nur etwa 1300 Flüchtlinge aufnehmen. Darüber ein Referendum abzuhalten, ist ein gefährliches Spiel", sagte Schulz den Zeitungen der Funke-Mediengruppe vor der Abstimmung an diesem Sonntag. Ministerpräsident Orban missachte damit EU-Grundprinzipien. "Er stellt die Rechtmäßigkeit der europäischen Gesetzgebung in Frage - an der Ungarn selbst beteiligt war."
Mehr als acht Millionen Ungarn sind aufgerufen, über die EU-Flüchtlingspolitik abzustimmen. Es wird mit einem deutlichen Nein zu Beschlüssen und Plänen der EU für die gleichmäßigere Verteilung von Asylbewerbern auf die Mitgliedsländer gerechnet. Allerdings ist unsicher, ob die Abstimmung gültig sein wird. Denn dazu wäre nötig, dass mehr als die Hälfte der Wahlberechtigten eine gültige Stimme abgibt. Mit dem Ergebnis wird am späten Sonntagabend gerechnet.
Nach Schulz' Auffassung sollten EU-Länder, die sich in der Flüchtlingskrise unsolidarisch zeigen, dies finanziell zu spüren bekommen. Momentan trügen die Nettozahler der EU auch die Hauptlast bei der Flüchtlingspolitik. "Wenn einige Empfängerländer also meinen, sie hätten einen Anspruch auf Solidarität, sie selbst müssten aber nicht solidarisch sein, wird das bei der Überprüfung der EU-Finanzplanung sicherlich diskutiert werden."
Den Vorschlag des luxemburgischen Außenministers Jean Asselborn, Ungarn aus der EU auszuschließen, lehnte Schulz allerdings als nicht hilfreich ab. Der ungarische Schriftsteller Rudolf Ungvary warf Orban rassistische Demagogie in der Kampagne für das Referendum vor. In der Werbung für ein Nein würden Fakten völlig verzerrt, sagte Ungvary im Deutschlandradio Kultur. Es werde getan, als würde Ungarn von Hunderttausenden Einwanderern überflutet, obwohl es nur um 1300 Menschen gehe. Das sei im Grund genommen "rassistische Demagogie".
Mit einem überwältigenden Sieg beim Referendum wolle Orban seine Macht über die Wahl 2018 hinaus absichern, sagte Ungvary. In Ungarn habe sich ein "fataler Zeitgeist" entwickelt. Bereits seit dem Jahr 2000 arbeite Orban an der Gleichschaltung der Bevölkerung.