Raissa Maistrenko war erst drei Jahre alt, doch der eine Tag vor 75 Jahren hat sich in ihr Gedächtnis eingegraben. "Hier wurden wie versammelt und auf den 'Todespfad' geschickt", erzählt die 78-Jährige und zeigt auf die mit Bäumen und Sträuchern bewachsene Böschung im Nordwesten der ukrainischen Hauptstadt.
Ursprünglich lag die Schlucht außerhalb der Stadtgrenze von Kiew. Ihr Name, Babi Jar, steht für das schlimmste Massaker an Juden vor dem fabrikmäßigen Massenmord durch Gaseinsatz im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau.
Nach ihrem Angriff auf die Sowjetunion im Juni 1941 begannen die Nazis mit der systematischen Ermordung der Juden in den von ihnen eroberten Gebieten. Nach der Einnahme Kiews töteten SS-Sonderkommandos mit Hilfe ukrainischer Kollaborateure am 29. und 30. September in der Schlucht von Babi Jar 34.000 Juden, meist Ältere, Frauen und Kinder. Ohne Unterbrechung schossen sie auf ihre Opfer, die sich zuvor nackt ausziehen und in die Schlucht legen mussten.
Auch Maistrenko und ihre Familie wurden in die Schlucht getrieben. Sie blieb am Leben - dank des Muts ihrer nicht-jüdischen Großmutter Tanja und als eine von nur insgesamt 29 Überlebenden. Die meisten von ihnen sind inzwischen gestorben, Maistrenko ist eine der letzten Zeitzeugen.
"Keiner konnte sich die Wahrheit vorstellen"
Es fällt ihr sichtlich schwer, ihre Bilder im Kopf in Worte zu fassen. Als die Nazis nach ihrem Einmarsch in Kiew die rund 200.000 jüdischen Bewohner unter Todesandrohung aufforderten, sich mitsamt Dokumenten und warmer Kleidung in der Schlucht einzufinden, gehorchten die meisten von ihnen, erzählt die 78-Jährige. "Sie dachten, sie würden umgesiedelt. Keiner konnte sich die Wahrheit damals vorstellen".
Da ihr Vater bei der Roten Armee war, lebten Raissa und ihre Mutter bei den Großeltern. Auch ihr Großvater Meer folgte dem Aufruf der Nazis. Seine nicht-jüdische Frau begleitete die Familie, um sich um ihre Enkelin zu kümmern.
Als sie sich der zum Massengrab umgewandelten Schlucht näherten, hörten sie markerschütternde Schreie. "Meine Oma hielt mich fest in ihren Armen, sie weigerte sich, mich loszulassen", erzählt Maistrenko AFP. "Irgendwann waren wir vom Rest der Familie getrennt. Soldaten prügelten mit Stöcken auf uns ein, damit wir dahin gingen, wo Schüsse zu hören waren". Voller Horror rief ihre Großmutter aus: "Ich bin Russin", und umklammerte Maistrenko mit beiden Händen.
"Ein Soldat versuchte, mich mit seinem Gewehrkolben zu schlagen, doch meine Oma schützte mich mit ihren Schultern, gemeinsam fielen wir zu Boden". Sie standen rasch wieder auf, ihre Großmutter bekreuzigte sich, rief immer wieder "Ich bin Russin" und bahnte sich gemeinsam mit ihrer Enkelin den Weg zurück durch die Menschenmassen. Dann rannte sie mit der Kleinen im Arm, bis sie in einem nahegelegenen Friedhof Schutz hinter Gräbern fand.
Erst im Schutz der Dunkelheit wagten sich Großmutter und Enkelin nach Hause zurück. Zu ihrer großen Erleichterung wurden sie von keinem der Nachbarn verraten. Diese setzten sich aus allen möglichen Nationalitäten zusammen und waren sehr freundlich, erinnert sich die 78-Jährige. "Während der Luftangriffe konnten wir Schutz im Keller suchen". So überlebten sie bis zum Einmarsch der Roten Armee in Kiew im November 1943.
Das Massaker von Babi Jar ist weniger bekannt als die NS-Vernichtungslager, auch die Bewohner Kiews sprechen nicht gern darüber. Zu seinem 75. Jahrestag soll nun am Donnerstag mit einem Staatsakt in der einstigen "Weiberschlucht" der Opfer gedacht werden. An ihm nehmen neben dem ukrainischen Präsidenten Petro Poroschenko und seinem israelischen Kollegen Reuven Rivlin auch die Staatschefs von Deutschland und Ungarn, Joachim Gauck und Janos Ader, sowie EU-Ratspräsident Donald Tusk und eine Delegation des Jüdischen Weltkongresses aus New York teil.. Österreich ist durch den Zweitem Nationalratspräsidenten Karlheinz Kopf (ÖVP) vertreten.