Die russische Menschenrechtlerin Ljudmila Alexejewa (89) kämpft seit Jahrzehnten für mehr politische Freiheit in ihrer Heimat. Immer wieder schaltet sich die Leiterin der Moskauer Helsinki-Gruppe in aktuelle Diskussionen ein. Für die Wahl am 18. September sieht sie schwarz. "Aber Präsident Wladimir Putin sollte sich nicht allzu sicher fühlen. Seine Beliebtheit sinkt", sagt sie im dpa-Interview.

Geben Sie der Opposition bei der Wahl überhaupt eine Chance?

Alexejewa:Einige werden es vermutlich ins Parlament schaffen, aber viele werden es nicht sein. Ein Grund dafür ist, dass die Anhänger der Opposition dieser Abstimmung nicht trauen und erst gar nicht zur Wahl gehen. Die Ernennung der neuen Wahlleiterin Ella Pamfilowa deutet zwar darauf hin, dass es keine unverschämten Fälschungen wie früher geben wird. Aber das Wahlsystem bleibt das alte. Manipuliert wird auf jeden Fall. In Moskau vielleicht weniger, aber in Regionen wie dem Nordkaukasus völlig skrupellos. Im Grunde wird es nirgendwo faire Wahlen gegeben. Daran kann Pamfilowa allein nichts ändern.

In Umfragen erreicht Präsident Wladimir Putin Sympathiewerte von 80 Prozent. Gleichzeitig hört man in der Bevölkerung viel Ärger über mangelnden Fortschritt in Russland. Wie passt das zusammen?

Alexejewa: Die Mehrheit der Bevölkerung klagt nicht über einen Mangel an Fortschritt, sondern über den spürbaren Verlust an Lebensqualität. Dafür machen sie aber nicht den Präsidenten verantwortlich, sondern die Regierung und besonders die örtlichen Behörden. Der Mythos vom "guten Zaren und schlechten Bojaren", also dem weisen Herrscher und seinem unfähigen Personal, ist bis heute in Russland populär.

Der Opposition wird vorgeworfen, keine Führungspersönlichkeit zu besitzen. Michail Chodorkowski und Garri Kasparow sind im Ausland. Alexej Nawalny ist vorbestraft, Sergej Udalzow wurde inhaftiert, Boris Nemzow wurde ermordet. Sehen Sie eine Führungspersönlichkeit?

Alexejewa: Das stimmt. Die Opposition ist uneins. Es gibt ganz Linke, es gibt etwas Ähnliches wie Sozialdemokraten, es gibt Liberale. Und dennoch: Einen einzigen Anführer kann es nicht geben. Ich persönlich bevorzuge keinen politischen Leader - und wissen Sie, warum? Ich bin Menschenrechtlerin. Ich unterstütze jeden Politiker, der Menschenrechte schützt. Und ich bekämpfe jeden, der sie schwächt.

Sie haben in der Vergangenheit Kanzlerin Angela Merkel und Bundespräsident Joachim Gauck getroffen. Glauben Sie, dass der Westen die Lage der Menschenrechte in Russland wirklich beeinflussen kann?

Alexejewa: Diese Unterstützung hilft uns enorm. Aber für die Achtung der Menschenrechte müssen wir selbst kämpfen. Dabei hilft uns die Solidarität jener, die uns hier im Land beistehen. Der Westen kann uns dabei ermutigen. Aber niemand kann für uns unsere Arbeit machen.