Am 23. Mai 2008 lud der republikanische Senator John McCain rund 20 Journalisten ein, um mehr als 1.000 Seiten seiner Gesundheitsakten durchzugehen. McCain war zu diesem Zeitpunkt 71 Jahre alt, er wollte Präsident werden, immer lauter wurden die Fragen, ob er dazu gesundheitlich überhaupt noch in der Lage sei. McCain trat dem entgegen, legte etliche Details offen und setzte neue Standards.
Acht Jahre später steht die Demokratin Hillary Clinton im Kreuzfeuer, weil sie eine Lungenentzündung geheim hielt. Ihr republikanischer Konkurrent Donald Trump ziert sich weiter, seine Steuererklärung zu veröffentlichen. Clinton wie Trump sehen sich mit der Forderung konfrontiert, der Wähler habe ein Recht darauf, diese privaten Details zu erfahren. Aber woher kommt das?
Aus der zukünftigen Aufgabe leitet sich ein gewisser Anspruch an Unfehlbarkeit ab: das höchste Amt des Staates, das mächtigste der Welt. Schwäche ist etwas, was Amerikaner ohnehin nicht mögen; der Commander in Chief, der Oberste Befehlshaber, darf erst recht keine zeigen.
Befehlsgewalt über Atomarsenal
"Der Präsident hat die Befehlsgewalt über das Militär und den Einsatz von Nuklearwaffen", sagt Aaron Kall von der Universität Michigan der Deutschen Presse-Agentur. Den Wählern gehe es um möglichst viel Transparenz, damit sie entscheiden könnten, ob jemand geeignet für den Posten sei. "Es ist wichtig, dass die Öffentlichkeit Vertrauen darin hat, ob Kandidaten der Aufgabe mental gewachsen sind und keine versteckten Probleme mit sich herumtragen, die sie erpressbar machen", sagt Kall. Und das Amt sei eine physische Herausforderung mit wenig Schlaf und viel Stress. "Man braucht sich nur die Vorher-Nachher-Bilder früherer Präsidenten anschauen, um zu sehen, welchen Tribut es dem Körper abverlangt", sagt Kall.
Der Einblick in intime medizinische Details mag befremdlich wirken, in der US-amerikanischen Politik ist er Konsens. Präsident Barack Obama veröffentlichte zuletzt im März seinen medizinischen Bericht. Der einstige Kettenraucher sei topfit, bescheinigte ihm sein Leibarzt. Sehkraft, Hörvermögen, Magen-Darm und Skelettmuskulatur, alles normal.#
Zwei ältere Kandidaten
Clinton ist 68 Jahre alt, Trump 70. Beide sind damit relativ alte Kandidaten. Beide verrieten bisher wenige Details über ihre Krankheitsgeschichte. Clintons Ärztin Lisa Bardack veröffentlichte im Juli 2015 eine zweiseitige Erklärung, in der sie ihr einen exzellenten Gesundheitszustand bescheinigte.
Das Trump-Lager folgte im Dezember mit einem Attest des Arztes Harold Bornstein, das viele Superlative und kaum Details enthielt. In einem Interview räumte Bornstein später ein, dass er das Schreiben unter zeitlichem Druck in fünf Minuten verfasst habe.
Glaubwürdigkeitsproblem
Für Clinton kommt erschwerend hinzu, dass sie ohnehin ein gravierendes Glaubwürdigkeitsproblem hat. Hartnäckig hält sich das Bild einer Politikerin, die etwas zu verbergen habe. Sie muss sich nun Fragen gefallen lassen, warum sie die Diagnose einer Lungenentzündung nicht gleich öffentlich machte. Dass ihr Team so lange brauchte, um überhaupt zu reagieren und dann zunächst von einem Hitzeanfall sprach, wird ihr als schwerer Fehler angerechnet.
Aber auch Trump schert sich wenig um Transparenz. Die Jahrzehnte alte Tradition, dass Präsidentschaftsanwärter ihre Steuererklärung offenlegen, ignoriert er hartnäckig. Anfangs hatte Trump das noch erwogen, dann entschied er, dass diese Zahlen niemanden etwas angingen. Bisher schadete ihm das allerdings nicht.
Wer folgt im Fall des Falles
Die Erkrankung von Clinton hat auch die Frage aufgeworfen, was geschieht, wenn ein US-Präsidentschaftskandidat nach seiner Nominierung dauerhaft ausfallen sollte. Die Verfassung sieht keine Nachfolge-Regelung vor, und die Regeln der Republikanischen und Demokratischen Partei in den USA sind reichlich vage. Auch gibt es keine Präzedenzfälle in einem laufenden Wahlkampf.Nach Angaben der Politikwissenschaftlerin Jeanne Zaino vom New Yorker Iona College haben beide Parteien die Nachfolgeregelungen bewusst schwammig gehalten, um eine größere Freiheit bei der Auswahl möglicher Kandidaten zu haben. Statt an feste Prozeduren gebunden zu sein, hätten sie auf diese Weise "die Möglichkeit, die beste Wahl zu treffen".
Zwar können sich weder Zaino noch andere Experten vorstellen, dass Clinton nach ihrem Schwächeanfall und der diagnostizierten Lungenentzündung aus dem Rennen um das Weiße Haus ausscheidet. Dennoch kursieren bereits zahlreiche Vorschläge, wer an ihre Stelle rücken könnte, sollte die 68-jährige Clinton zum Aufgeben gezwungen werden.
Cain oder Sanders?
Am häufigsten genannt werden Clintons Vize-Kandidat Tim Kaine und ihr Vorwahl-Herausforderer Bernie Sanders sowie der derzeitige US-Vize-Präsident Joe Biden. Der auf US-Wahlen und -Wahlkämpfe spezialisierte Wissenschaftler der American University, David Lublin, hält Kaine für den folgerichtigsten Anwärter für Clintons Nachfolge, an zweiter Stelle sieht er den Liebling der Parteibasis, Sanders, an dritter den populären Vize-Präsidenten.
Sollte Clinton einen Rückzieher machen, dann müsste nach Artikel 2, Absatz 7 der Statuten der Demokraten der Parteivorsitzende die Mitglieder des National Committee - eine Art erweiterter Parteivorstand - zu einem Sondertreffen zusammenrufen, auf dem die Teilnehmer mehrheitlich einen Nachfolger bestimmen. Bei den Republikanern gelten ähnliche Regeln.
Zaino rechnet trotz des bisher "verrückten Wahlkampfs" nicht damit, dass Clinton zurücktritt - "es sei denn, um ihre Gesundheit ist es weitaus schlechter bestellt, als man uns glauben macht."