Die irakische Stadt Kirkuk erlebte am Sonntag dramatische Momente. Ein Halbwüchsiger im Trikot des Barcelona-Stars Lionel Messi fiel Polizisten auf, weil er bei der Kontrolle anfing zu schluchzen. Unter seinem Shirt steckte ein weißer Sprengstoffgürtel. Zwei Uniformierte hielten den Burschen sofort an seinen Armen fest und holten Peschmerga-Spezialisten zu Hilfe. Diese schnitten mit einer Zange Kabel und Halterungen durch.
Als der Gürtel zu Boden fiel, zerrten die Männer den Burschen vom Mordinstrument weg, während Schaulustige und Ladenbesitzer erleichtert applaudierten. Mit verstörtem Blick starrte der Teenager in die Nacht, sein Trikot lag zerrissen auf dem Asphalt. Dann schoben ihn die Beamten in einen Wagen und fuhren davon.
Bislang hüllen sich die kurdischen Behörden in Schweigen über die Hintergründe des verhinderten Attentats. Doch vieles deutet darauf hin, dass auch hinter diesem Fall in Kirkuk - wie tags zuvor bei der Explosion inmitten einer Hochzeitsgesellschaft im türkischen Gaziantep - die Terrormiliz IS steckte.
IS mobilisiert Kinder
„Der IS mobilisiert Kinder und Jugendliche in einem wachsenden und beispiellosen Maße“, urteilt die bisher einzige Studie zum Thema, die von der „Georgia State University“ in Atlanta erarbeitet wurde. Dazu werten drei Forscher 89 Twitterfotos und -videos aus, auf denen zwischen Jänner 2015 und Jänner 2016 Kinder und Jugendliche im Alter zwischen 8 und 18 Jahren als sogenannte IS-Märtyrer gefeiert werden.
Etwa 40 Prozent ihrer Gewalttaten sind Selbstmordattentate durch mit Dynamit gefüllte Autos. 33 Prozent der Halbwüchsigen starben auf dem Schlachtfeld, 18 Prozent nahmen an Inghimasis-Operationen teil, bei denen Gruppen von Kämpfern mit leichten Waffen hinter die Linien ihrer Gegner einsickern und sich gemeinsam in die Luft sprengen.
Die überwiegende Zahl der dokumentierten Attentate richtete sich gegen Polizisten, Soldaten oder Milizionäre. Lediglich in drei Prozent der Fälle sprengten sie sich inmitten von Zivilisten in die Luft. Solche Aktionen sind „eine sehr effektive Form von psychologischer Kriegsführung“, urteilen die Wissenschaftler, die mit immer mehr IS-Einsätzen von Minderjährigen rechnen.
Kampfkraft ging zurück
Denn der Zustrom ausländischer Jihadisten über die Türkei geht stark zurück, seit eine kurdisch-arabische Streitmacht mit US-Luftunterstützung die IS-Nachschubwege erobert hat und kappt. Zudem wurde die Zahl der Kämpfer durch permanente Luftangriffe sowie eine Serie von militärischen Niederlagen spürbar dezimiert - in Falludscha, Ramadi und Sindschar auf irakischer Seite sowie in Manbidsch und Palmyra auf syrischer Seite. Nach Angaben des US-Oberkommandos verfügt der IS noch über 15.000 bis 20.000 Bewaffnete, deren Kampfkraft jedoch spürbar nachgelassen hat.
Zehntausende Heranwachsende werden seit Mitte 2014 in den Schulen des IS indoktriniert. Schulbücher, die Hass und Verachtung für Andersgläubige lehren, stammen fast alle aus Saudi-Arabien. Obendrein entwickelte der IS eine Lern-App für „die Jungen des Kalifats“, die den Kindern das Alphabet in Jihadistenmanier beibringen soll. Jeder Buchstabe ist als Merkhilfe verknüpft mit dem Bild von Minen, Gewehren, Granaten, Panzern oder Schwertern.
Jugendliche missbraucht
Diese Praxis ist keineswegs IS-spezifisch. Auch die Taliban in Pakistan unterhalten Anstalten, in denen sie minderjährige Attentäter ausbilden. Die Huthis im Jemen setzen Kinder als Soldaten ein, die libanesische Hisbollah rekrutiert Jugendliche, um die Verluste auf dem syrischen Schlachtfeld auszugleichen. Keine der radikalen Organisationen jedoch setzt Kinder so bewusst zu Propagandazwecken ein. Eine Fülle von Videos zeigt maskierte Kinder, die vor ihnen knieende Soldaten oder angeblich enttarnte Spione per Kopfschuss hinrichten.
Kürzlich wurden in einem neuen Propagandafilm 1400 jesidische Kinder vorgeführt, die angeblich zu Selbstmordattentätern ausgebildet werden sollen. Denn 3800 Jesiden befinden sich noch in der Hand des IS, lediglich 2600 konnten freigekauft werden. Täglich kommen Menschen aus der IS-Sklaverei zurück, sagt Baba Cawis, religiöser Wächter des jesidischen Heiligtums im irakischen Lalisch. Die Gefangenen sind bereits zwei Jahre der Gehirnwäsche ausgesetzt. „Die Leute haben inzwischen Angst vor den eigenen Kindern, dass sie genauso gewalttätig werden wie der IS“, sagt er. „Denn Kinder sind wie ein weißes Buch.“
Martin Gehlen