Außenminister Sebastian Kurz will Länder wie Ungarn oder Polen wegen ihrer Weigerung, die EU-Flüchtlingsquoten zu erfüllen, nicht in die Kritik nehmen. "Alleine mit der Verteilung wird man das Problem nicht lösen", erklärte der ÖVP-Politiker im APA-Interview. Vielmehr müsse die EU einmal den gemeinsamen Außengrenzenschutz zustande bringen. Dann würden auch Ungarn und Polen mithelfen.

Zudem sei das vergangene Jahr in der EU generell von einem "Hinwegsetzen über europäisches Recht" geprägt gewesen. "Über jegliche Regelungen, die wir hatten." Manche mitteleuropäischen EU-Länder sollten aber anderen Staaten nicht ihre Meinung aufzwingen, so Kurz, "bloß weil sie glauben moralisch überlegen zu sein". Die EU sei im vergangenen Jahr "falsch abgebogen", argumentierte der Außenminister. Sie habe zugelassen, dass sich Flüchtlinge das Land aussuchen konnten, wo sie um Asyl ansuchten.

"Man hat mittlerweile die Gewissheit, dass man mit demselben Geld vor Ort wesentlich mehr helfen kann, als wenn man versucht, die Menschen alle in Mitteleuropa aufzunehmen", forderte Kurz ein Umdenken. Dass das Flüchtlingsthema aus innenpolitischen Gründen am Köcheln gehalten werde, stellte der Außenminister in Abrede. Es sei schade, "dass man immer so tut, als würde jeder Politiker jede Meinung nur aus einer wahlpolitischen Überlegung heraus äußern".

Im Folgenden das APA-Interview mit Außenminister Sebastian Kurz zum Themenkomplex "Flüchtlinge" im Wortlaut:

APA. Das EU-Umsiedlungsprogramm für Flüchtlinge aus Griechenland und Italien funktioniert nicht. Sie haben oft Griechenland und Italien kritisiert. Dass Länder wie Ungarn oder Polen eine gemeinsame Bewältigung der Krise torpedieren, blieb aber unkommentiert. Warum? Hätte die EU nicht Ungarn oder Polen finanzielle Konsequenzen androhen müssen?

Kurz: Ich habe das immer wieder kommentiert, bloß in eine andere Richtung, nämlich dass man alleine mit der Verteilung das Flüchtlingsproblem nicht lösen wird. Das Problem ist, dass nicht nur Menschen kommen, die Sicherheit suchen, sondern ein besseres Leben. Das ist menschlich verständlich, aber wenn man sich die demografische Situation in Afrika anschaut und die Bevölkerungsentwicklung, dann ist das kein funktionales Konzept.

Wir haben in Afrika eine Milliarde Menschen, in 20 Jahren laut Prognosen zwei Milliarden, Ende des Jahrhunderts sind es vier Milliarden. Wer glaubt, dass wir Migration ungesteuert stattfinden lassen können, ist naiv. Ich glaube auch nicht, dass es gut ist, wenn in der EU einige mitteleuropäische Staaten anderen Staaten ihre Meinung aufzwingen, bloß weil sie glauben, moralisch überlegen zu sein. Die EU wäre gut beraten, einmal den gemeinsamen Außengrenzenschutz zustande zu bringen. Ich bin überzeugt, dass Ungarn und Polen bereit wären, da mitzuhelfen.

Legale Wege nach Europa sollten in einem schaffbaren Ausmaß vorhanden sein. Wenn die illegale Migration beendet ist, kann man auch mit Quoten arbeiten. Aber wenn die Staaten das Gefühl haben, es kommen immer mehr Menschen nach, auch ohne Fluchtgrund und unabhängig davon, wie viele sie schon aufgenommen haben, dann wird sich das in der Union nicht durchsetzen.

APA: Es ist schon klar, dass die Quotenregelung nicht die alleinige Lösung des Problems sein kann. Aber ist es nicht doch problematisch, wenn sich Mitgliedsstaaten über Beschlüsse hinwegsetzen, ohne dass es Konsequenzen gibt?

Kurz: Das letzte Jahr war ja an sich ein Sichhinwegsetzen über europäisches Recht und über jegliche Regelungen. Die Dublin-Verordnung sieht vor, dass der Flüchtling den Asylantrag im Land stellen muss, in dem er als erstes europäischen Boden betritt. Ich kann mir aber nicht erklären, wie Menschen zu uns kommen können, ohne dass sie vorher in einem EU-Land und damit in Sicherheit waren.

Die europäischen Regelungen haben nie vorgesehen, dass wir Flüchtlinge staatlich organisiert bis nach Österreich oder Schweden weitertransportieren, weil sie nicht in Ungarn oder in Griechenland ihren Asylantrag stellen wollen. Die Flüchtlinge sind oft nicht bereit, in Länder zu gehen, wo es Quartiere gibt. In Rumänien ist nur ein Bruchteil dieser Quartiersplätze gefüllt, weil die Flüchtlinge nicht nach Rumänien wollen.

Wenn Sie in Österreich mit Flüchtlingen unter vier Augen sprechen, sagen Ihnen ja viele, dass sie nicht gekommen wären, wenn sie nach Polen oder Griechenland hätten gehen müssen. Dann wären sie vielleicht sogar als Binnenflüchtlinge im eigenen Land geblieben.

APA: In Ungarn arbeiten jetzt österreichische Polizisten und Soldaten mit den dortigen Behörden zusammen. Es gab Vorwürfe, dass die ungarischen Behörden gegenüber Flüchtlingen menschenrechtswidrig vorgehen. Es wurden sogar Foltervorwürfe erhoben. Wie wollen Sie sicherstellen, dass sich die österreichischen Polizisten und Soldaten nicht die Hände schmutzig machen?

Kurz: Die österreichischen Polizisten und Soldaten sind gut ausgebildet. Ich habe da tiefes Vertrauen, dass sie ihr Geschäft auch beim Assistieren im Ausland mit derselben Gewissenhaftigkeit und demselben moralischen Anspruch machen wie bei uns.

APA: Es gibt Stimmen, die meinen, das Flüchtlingsthema werde aus innenpolitischen Überlegungen am Köcheln gehalten. Stichwort Notverordnung. Wie ist Ihre Reaktion darauf?

Kurz: Ich kann diese Unterstellungen der innenpolitischen Überlegungen bald schon nicht mehr hören. Als ich vor einem Jahr davor gewarnt habe, dass der Weg der unbeschränkte Aufnahme in Mitteleuropa der falsche sei, war das die absolute Mindermeinung. Die Masse der Medien und die Masse der Bevölkerung hat anders gedacht. Es war alles andere als populär, das anzusprechen. Ich finde es schade, dass man immer so tut, als würde jeder Politiker jede Meinung nur aus einer wahlpolitischen Überlegung heraus äußern.

Die EU ist in der Flüchtlingsfrage falsch abgebogen. Sie hat zugelassen, dass sich Menschen aussuchen können, in welchem Land sie einen Asylantrag stellen. In Slowenien haben nicht einmal 100 einen Antrag gestellt. In Österreich 90.000. Man hat zugelassen, dass das System ins Wanken gekommen und aus dem Ruder gelaufen ist. Man hat mittlerweile die Gewissheit, dass man mit demselben Geld vor Ort wesentlich mehr helfen kann, als wenn man versucht, die Menschen alle in Mitteleuropa aufzunehmen. Ich werde weiterhin darauf drängen, dass die EU endlich eine nachhaltige und vernünftige Flüchtlingspolitik macht. Das bedeutet Hilfe vor Ort, aber gleichzeitig den Versuch, jegliche illegale Migration nach Europa zu stoppen oder bestmöglich zu reduzieren.

APA: Ein Mittel für mehr Hilfe vor Ort wäre die Entwicklungszusammenarbeit. Österreich hat einen Anstieg der Mittel bis 2021 angekündigt. Wenn man sich das aber genauer anschaut, geht da ein Großteil in der Einrechnung von Ausgaben für Flüchtlingsbetreuung in Österreich auf. Ist das wirklich ein konstruktiver Beitrag zur Behebung der Fluchtursachen?

Kurz: Mit demselben Geld, mit dem wir einen Flüchtling in Österreich ein Jahr versorgen, können wir in Ländern der Region 20 oder mehr Personen ein Jahr versorgen. Also ist das Geld vor Ort wesentlich besser investiert. Ich persönlich bin froh, dass es nach zehn Jahren gelungen ist, Einsparungen im Bereich der Entwicklungszusammenarbeit zu stoppen. Seitdem ich Minister bin, haben wir den Auslandskatastrophenfonds vervierfachen können. Und wir können die bilaterale Entwicklungszusammenarbeit in den nächsten Jahren verdoppeln.

APA: Die Kritik, dass die Erhöhung der EZA in Wahrheit Gelder betrifft, die dann in Österreich verwendet werden, irritiert Sie nicht?

Kurz: Die bilateralen Entwicklungszusammenarbeitsgelder aus meinem Ressort werden nicht in Österreich, sondern natürlich im Ausland verwendet, wo sie hingehören.

APA: Sie sehen den EU-Flüchtlingsdeal mit der Türkei kritisch. Gleichzeitig machen Sie sich aber stark für einen ähnlichen Deal mit einem Bürgerkriegsland wie Libyen. Soll man wirklich ernsthaft in Erwägung ziehen, Personen in ein Land zurückzuschieben, das teilweise vom IS oder anderen jihadistischen Gruppierungen kontrolliert wird?

Kurz: Wogegen ich mich immer skeptisch geäußert habe, ist die Abhängigkeit gegenüber der Türkei. Man sollte sich nicht erpressbar machen lassen. Wir müssen aber die illegale Migration und die Schlepperei beenden. Mit je mehr Staaten wir zusammenarbeiten, desto breiter ist unser Risiko gestreut, desto unabhängiger sind wir. Und insofern hoffe ich sehr darauf, dass es hier eine Zusammenarbeit mit der libyschen Küstenwache gibt. Ich glaube auch, dass das möglich ist.

APA: Aber kann das im Fall von Libyen ohne einen internationalen Militäreinsatz überhaupt funktionieren?

Kurz: Ich hoffe, dass wir als Europäische Union bald imstande sind, da einen ordentlichen Beitrag zu leisten. Das wäre ein sinnvoller Schritt, um den Zustrom zu reduzieren. Wir wissen, dass es seit der Schließung der Westbalkanroute dort zu einem Abnehmen der Zahlen gekommen ist. Die Südroute betreffend, also Libyen, Mittelmeer, Italien, sind die Zahlen aber nach wie vor sehr, sehr hoch.

(Das Gespräch führte Edgar Schütz/APA)