Wieder hat der Terror zugeschlagen. Diesmal an der mondänen "Promenade des Anglais", der Prachtstraße von Nizza, und auch der Zeitpunkt der barbarischen Tat ist kein Zufall: In vielen Städten Frankreichs gipfelt der Nationalfeiertag in einem gigantischen Feuerwerk. Als die Ausgelassenheit am größten war, setzte sich der Attentäter in seinen im Nebenort angemieteten Lkw und mähte auf einer Strecke von fast zwei Kilometern wahllos Frauen und Kinder, Einheimische und Touristen, Franzosen und Migranten nieder.
Seit dem 11. September sind wir mit diesem Typus von Terror konfrontiert. Während es die RAF oder die Roten Brigaden gezielt auf Politiker, Unternehmer, Generäle abgesehen hatten, nehmen die Terroristen des 21. Jahrhunderts die gesamte Gesellschaft ins Visier, wollen einfach Angst und Schrecken verbreiten und alle Menschen, nicht nur die Verantwortlichen in Staat und Gesellschaft, in Panik versetzen. Ohne Rücksicht auf Verluste.
Dass der Schock diesmal vielleicht tiefer sitzt, liegt weniger an der besonderen Heimtücke der Tat - eine U-Bahn in die Luft zu sprengen (wie in Brüssel) oder mit Kalaschnikows Leute im Kaffeehaus abzuknallen (wie in Paris) ist nicht weniger perfide. Es sind die über die sozialen Medien verbreiteten Bilder, die das Grauen des Terrors eindrücklich darstellen. Nicht der klassische Journalist, sondern der Mann von der Straße wurde zum Reporter, in Windeseile verbreiteten sich bereits in den Nachtstunden Bilder und Videos von entstellten Körpern und blutverschmierten Puppen. Zumindest in Ansätzen funktionierte das Korrektiv der Humanität und der Menschenwürde. Denn die Postings lösten gerade in den sozialen Medien auch einen Sturm der Entrüstung aus, einige Leute löschten daraufhin ihre eigenen voyeuristischen Postings.
Nach dem x-ten Anschlag innerhalb weniger Monate in einer westlichen Metropole reagiert die Politik hilflos ritualisiert auf die jüngste Barbarei – und greift zu Formulierungen der Abscheu, der Betroffenheit und der Anteilnahme. Einige Politiker legen hingegen ihre alten Platten auf, sehen sich ihren Ansicht bestätigt und holen zum undifferenzierten Rundumschlag aus – ohne Rücksicht auf die Wahrheit. So fordert etwa Robert Lugar vom Team Stronach stärkere Kontrollen an der Grenzen und eine Verschärfungen in der Flüchtlingspolitik, nur: Der Attentäter lebte seit Jahren an der Cote d'Azur und kam nicht im Flüchtlingstross nach Europa. Im Übrigen: Sollte sich bestätigen, dass es sich um einen Franzosen tunesischer Herkunft stammen, geht auch die Forderung nach einer besseren sprachlichen Integration ins Leere. Auch die Attentäter von Brüssel und Paris sprachen perfekt Französisch.
Nizza mag für viele immer noch der Inbegriff der Lebensfreunde sein, doch sollte man einen Blick auf das große Ganze werfen. An der stets sonnigen Cote d'Azur leben besonders viele Migranten, die geographische Nähe zu den ehemaligen Kolonien in Nordafrika hat dies begünstigt. Und auch zwischen Nizza und Marseille ist ein Phänomen zu beobachten, das wir aus anderen Großstädten Europas kennen: Vielen gelingt es nicht, in Europa Wurzeln zu schlagen - kulturell wie auch sozial und ökonomisch. Während die erste Generation der Eingewanderten sich mit dem Status quo abgefunden und die Entbehrungen auf sich genommen hat, geben sich die Kindern und Kindeskinder nicht zufrieden, mutieren zu Wutbürgern und suchen allenfalls eine Orientierung in der ihnen zumeist fremden Religion ihrer Vorfahren.
Dass der Kampf gegen den Terror verstärkt, die Polizei besser ausgestattet, der Krieg in Syrien ausgeweitet werden müssen, darüber ist man sich ohnehin einig. Nur ändert das nichts am Schicksal der kulturell Heimatlosen, die in ihrem Hass auf die westliche Gesellschaft zur Kalaschnikow greifen oder sich in einen Lkw setzen.
MICHAEL JUNGWIRTH