London hat nach dem Brexit-Referendum noch nicht einmal offiziell seinen Wunsch mitgeteilt, die EU zu verlassen. Doch Europa schafft Tatsachen. Die Phase der Unsicherheit soll nicht lange dauern.
Nur sechs Tage nach dem historischen Brexit-Referendum treffen sich die Chefs von 27 EU-Staaten in Brüssel - ohne das austrittswillige Großbritannien. Sie wollen über die Zukunft der Europäischen Union sprechen, wie EU-Ratspräsident Donald Tusk am frühen Mittwoch in Brüssel ankündigte.
Mit dieser Zusammenkunft (09.00 Uhr) bricht eine neue Ära an. Diplomaten sagten, es solle auch ein erster Zeitplan für das weitere Vorgehen skizziert werden. Eine Wegmarke steht schon fest: Im September soll es im slowakischen Bratislava einen informellen Sondergipfel geben - wieder ohne die Briten.
In der EU bleiben wollen indes die Schotten: Deshalb empfängt EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker
Nachmittag die schottische Regierungschefin
Nicola Sturgeon in Brüssel. Das Treffen werde um 17.00 Uhr in der Kommission stattfinden, teilte eine Sprecherin mit. Am Vormittag trifft Sturgeon zudem den EU-Parlamentspräsidenten Martin Schulz.
Merkel sieht keinen Weg zurück
Doch nicht nur Schotten sträuben sich gegen den Austritt: Eine Internet-Petition, die nach dem Brexit ein
zweites Referendum fordert, hat Mittwoch früh indes die 4-Millionen-Grenze überschritten. Die Petition "#Whathavewedone" kam bisher auf 4.008.791 Unterstützer. Die Chancen, dass es zum "Exit vom Brexit" kommt, sind allerdings gering: Die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) machte in der Nacht nach einer Gipfeldebatte mit dem scheidenden Premier David Cameron deutlich, dass sie das britische Austrittsvotum für unumstößlich hält. "Ich sehe keinen Weg, das wieder umzukehren", sagte sie. Dies sei nicht die Stunde von "wishful thinking" - von Wunschdenken. "Das Referendum steht da als Realität", sagte Merkel. Sie begrüßte den geplanten Sondergipfel. "Das ist ein guter nächster Schritt."
Kerry schließt Rücktritt vom Austritt nicht aus
US-Außenminister John Kerry hat nach seinem Besuch in London eine Rücktritt der Briten vom Brexit nicht ausgeschlossen. Auf die Frage, ob die Brexit-Entscheidung rückgängig gemacht werden könne, sagte Kerry am Dienstag bei einer Diskussion in Washington, es gebe da "eine Reihe von Möglichkeiten". Er würde es für einen Fehler halten, die Briten sofort aus der EU zu werfen, sagte der Außenminister.
Schwerer Abschied für Cameron
Cameron resümierte: "Unsere Partner in der Europäischen Union sind wirklich traurig, dass wir vorhaben, diese Organisation zu verlassen." Auch er sei traurig, weil er Großbritannien als Mitglied einer reformierten EU habe halten wollen. Er habe viele Zusicherungen erhalten, dass sein Land bis zum Tag seines Austritts ein zahlendes EU-Mitglied mit allen Rechten bleibe, sagte Cameron.
Bundeskanzler Christian Kern (SPÖ) beschrieb das Gespräch mit Cameron über den Brexit als "sehr intensiv und sehr emotional". Es sei für Cameron ein schwerer Abschied gewesen und er habe noch einmal sehr glaubhaft klargemacht, dass er den Brexit nicht wollte.
51,9 Prozent der Briten für Ausstieg
Die EU-Partner forderten ihn am ersten Gipfeltag auf, so schnell wie möglich Klarheit über den Austritt zu schaffen. "Wir haben nicht Monate Zeit zum Nachdenken", sagte EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker. Bevor London seinen Austrittswunsch nicht offiziell in Brüssel mitteile, werde es keine Verhandlungen geben. Der EU-Vertrag setzt für Austrittsverhandlungen einen Rahmen von zwei Jahren.
Bei der Brexit-Abstimmung in der vergangenen Woche hatten 51,9 Prozent der Wähler für einen Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU gestimmt. Der konservative Cameron hatte daraufhin seinen Rücktritt für den Herbst angekündigt.
EU-Gipfelchef Tusk sagte, die Staats- und Regierungschefs wollten Einzelheiten über die Absichten der britischen Regierung wissen. Cameron habe deutlich gemacht, dass die Entscheidung über den Austrittsantrag von der neuen Führung in seinem Land gefällt werden solle - das bedeutet also frühestens im Herbst, falls es beim Londoner Zeitplan bleiben sollte. Die Chefs hätten Verständnis dafür, "dass einige Zeit nötig ist, damit sich der Staub im Vereinigten Königreich legen kann", sagte Tusk.
Wirtschaft wird eingebremst
Der Präsident der Europäischen Zentralbank (EZB), Mario Draghi, warnte schließlich in der Spitzenrunde vor den wirtschaftlichen Folgen eines Brexits. Das Wachstum in der Eurozone könne in den nächsten drei Jahren um insgesamt 0,3 bis 0,5 Prozentpunkte geringer ausfallen als angenommen, warnte der mächtige Notenbanker laut Diplomaten. Ein geringeres Wachstum in Großbritannien werde Auswirkungen auf die Eurozone als wichtigsten Handelspartner der Briten haben.