In Spanien bleibt nach der Parlamentsneuwahl vorerst alles beim Alten. Und Charo hat es schon vorher gewusst. "Diese Wahl kostet ein Vermögen und ist reine Verschwendung", schimpfte die rüstige Rentnerin schon am Sonntagnachmittag nach ihrer Stimmabgabe - und lange vor Bekanntgabe erster Ergebnisse. "Alle Spanier wissen es, nur die Politiker nicht: Es wird sich im Vergleich zur ersten Wahl im Dezember kaum etwas ändern. Es wird keine klaren Mehrheiten geben, die alten Probleme werden bleiben", fuchtelte die Großmutter.
Charo sollte recht behalten. Die konservative Volkspartei (PP) des geschäftsführenden Ministerpräsidenten Mariano Rajoy (61) behauptete sich erneut als stärkste Kraft und verpasste - wie schon am 20. Dezember - die absolute Mehrheit trotz Gewinnen wieder um Längen. Das Linksbündnis um die Protestpartei Podemos (Wir Können) blieb entgegen den meisten Umfragen doch hinter den Sozialisten (PSOE) auf Platz drei. Die liberalen Ciudadanos (Bürger) landeten mit großen Verlusten abgeschlagen auf Rang vier.
Verhärtete Konflikte
"Die Rechnung geht wieder nicht auf", sagte eine Moderatorin des TV-Senders "RTVE". In der Theorie wäre zwar - wieder - eine Große Koalition von PP und PSOE möglich, aber Sozialisten-Chef Pedro Sanchez hat eine Unterstützung der wegen Korruptionsaffären und Kürzungen heftig kritisierten Konservativen mehrfach kategorisch ausgeschlossen. Die Teilnehmer einer "RTVE"-Talkrunde am Wahlabend glauben ihm aus einem einfachen Grund: "Die Sozialisten würden Podemos das Feld überlassen und von der Bildfläche verschwinden."
An einer anderen Koalitionsfront darf nicht vergessen werden, dass Podemos-Chef Pablo Iglesias (37) in den vergangenen Monaten Sanchez die Unterstützung verweigert hatte, nachdem die Sozialisten bereits einen Regierungspakt mit Ciudadanos geschlossen hatten. Und dass die Forderung des umstrittenen Politologen und Pferdeschwanzträgers, ein Unabhängigkeits-Referendum für die Region Katalonien zuzulassen, von allen gemäßigteren Kräften in Spanien - nach dem Brexit erst recht - abgelehnt wird.
"Miserable politische Lage"
Analysten nahmen am späten Abend schon wieder das Wort Unregierbarkeit in den Mund. Die Zeitung "El Mundo" hatte das Gespenst schon vor Öffnung der Wahllokale auf Seite eins an die Wand gemalt: "Der Überdruss der Bürger, die Bedrohung der Unregierbarkeit und der Brexitschock prägen die zweite Wahl innerhalb von sechs Monaten."
Dass die erste Neuwahl in der demokratischen Geschichte Spaniens ausgerufen wurde, wurde nicht nur vom Mann auf der Straße kritisiert, sondern auch von prominenten Politikern. Der Europa-Abgeordnete von Ciudadanos Javier Nart sprach am Wahlabend sogar von einer "Obszönität" und beklagte eine "miserable politische Lage".
"Ich habe letztes Mal für (die Linkspartei) Podemos gestimmt, bin aber enttäuscht, dass sich in den vergangenen Monaten auch Linke und Sozialisten nicht einigen konnten, um die Konservativen von der Macht zu verdrängen. Alle Politiker sind gleich", klagt Chema. Der Student gründete mit sechs Kommilitonen die Gruppe "Tomar Si, Votar No" (Trinken ja, Wählen nein). "Alle an der Uni schnauben vor Wut, aber nicht alle haben mitgemacht", erzählt er.
Wie geht es jetzt weiter?
Das neu gewählte Parlament soll am 19. Juli zu seiner konstituierenden Sitzung zusammentreten. Der neue Parlamentspräsident wird anschließend König Felipe VI. eine Liste mit den Namen von Repräsentanten der Fraktionen überreichen. Der Monarch wird die Politiker zu Konsultationen in den Zarzuela-Palast einladen und in Folge dem Parlament einen Kandidaten für das Amt des Regierungschefs vorschlagen.
Dem König sind dabei keine Fristen gesetzt. Der bisherige Ministerpräsident Mariano Rajoy hatte angekündigt, dass er eine Kandidatur nur annehmen werde, wenn er im Parlament eine ausreichende Mehrheit hinter sich wisse. In der ersten Abstimmung im Parlament benötigt der vom König vorgeschlagene Kandidat eine absolute Mehrheit. Wenn er diese verfehlt, reicht im zweiten Wahlgang zwei Tage später eine einfache Mehrheit.
Scheitert der Kandidat auch im zweiten Wahlgang, tritt eine Frist in Kraft: Wenn dann innerhalb von zwei Monaten (gezählt ab dem Datum des ersten Wahlgangs) kein neuer Regierungschef gewählt wird, muss der König Neuwahlen ansetzen.
Demokratie-Minusrekord
Viele fühlen sich wie Chema von der Politik auf den Arm genommen, haben aber gewählt, weil sie nach der Abstimmung der Briten für einen EU-Austritt noch mehr Angst vor der Zukunft haben. Chemas Bewegung hatte "offiziell" nur sieben Mitglieder. Dass aber sehr, sehr viele ähnlich dachten, zeigen die amtlichen Zahlen: Die Beteiligung fiel auf einen Demokratie-Minusrekord von 68 Prozent. Allein im Vergleich zum 20. Dezember gab es einen Rückgang um fünf Punkte.
"Wir spüren heute die Erschöpfung derjenigen, die gezwungen werden, nach einem unendlich langen Wahlkampf, der das ganze Elend der Politik an die Oberfläche getrieben hat, erneut ihre Stimme abzugeben", klagte der angesehene Geschichtswissenschaftler und Soziologe Santos Julia (76) im Renommierblatt "El Pais".
Sind aber dritte Wahlen denn möglich, ist ein Jahr ohne echte Regierung denkbar?, fragen sich viele in diesen ungewissen Stunden der viertgrößten Volkswirtschaft der Eurozone. Inigo Errejon (32), die Nummer zwei des Linksbündnisses Unidos Podemos hinter dem Spitzenkandidaten Pablo Iglesias (37), sprach im Interview von "El País" das aus, was viele denken: "Noch denkt der Wähler an die Zukunft, aber dritte Wahlen, ja, das wäre ein Desaster."