Nach dem Brexit-Schock drängt die EU Großbritannien zu schnellem Handeln: EU-Parlamentspräsident Martin Schulz rief den britischen Premierminister David Cameron auf, beim EU-Gipfel am Dienstag die Austrittserklärung abzugeben. Schottland will indes versuchen, einen Brexit mittels Veto zu verhindern. Und in der britischen Labour-Partei ist ein Machtkampf entbrannt.
"Ein Zögern, nur um der Parteitaktik der britischen Konservativen entgegenzukommen, schadet allen", sagte Schulz der "Bild am Sonntag". Eine lange Hängepartie führe "zu noch mehr Verunsicherung und gefährde dadurch Arbeitsplätze". "Deshalb erwarten wir, dass die britische Regierung jetzt liefert. Der Gipfel am kommenden Dienstag ist hierfür der geeignete Zeitpunkt." Selbiges will auch das Europaparlament fordern, wie die "Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung" unter Berufung auf einen Entschließungsantrag berichtet.
Keinerlei Vorschriften
Der britische Außenminister Philip Hammond erklärte jedoch, dass es keinerlei Vorschriften für den Zeitpunkt der Antragstellung auf einen EU-Austritt gebe. Tatsächlich könne sein Land ganz autonom darüber entscheiden. Das gesamte Kabinett - Brexit-Befürworter wie -Gegner - werde im Amt bleiben, bis ein neuer Regierungschef bestimmt sei, kündigte Hammond an. Auch Brexit-Befürworter Boris Johnson, der als Nachfolger Camerons gehandelt wird, ließ bereits am Freitag wissen, dass er keine Eile hinsichtlich der Aktivierung des EU-Austrittsartikels 50 habe.
Die schottische Regierungschefin Nicola Sturgeon betonte indes erneut, dass sie ein zweites Referendum über die Unabhängigkeit ihres Landesteils für "höchst wahrscheinlich" halte. Das Vereinigte Königreich, für das Schottland 2014 gestimmt habe, "existiert nicht mehr", sagte Sturgeon dem Rundfunksender BBC. Außerdem erwäge sie eine Blockade des britischen EU-Ausstiegs, sollte sich herausstellen, dass dies zur Sicherung schottischer Interessen notwendig sei. Dazu gehöre im Zweifel auch, dem schottischen Parlament eine Blockade der erforderlichen Brexit-Gesetzgebung zu empfehlen.
Ein "Nein" des schottischen Parlaments hätte Gewicht. Die komplexen Vereinbarungen zur Macht-Aufteilung in Großbritannien beinhalten, dass die Regionalregierungen in Schottland, Wales und Nordirland Entscheidungen aus London wie einen EU-Austritt mittragen müssten.
Bei dem Referendum am Donnerstag hatten sich zwar insgesamt die Befürworter eines britischen EU-Ausstiegs mit 52 zu 48 Prozent der Stimmen durchgesetzt. In Schottland hatten indes 62 Prozent für einen EU-Verbleib gestimmt.
Online-Petition für zweites Referendum
Für einen Verbleib oder zumindest für die Wiederholung der Volksabstimmung vom Donnerstag machen sich immer mehr Bürger stark. Mehr als drei Millionen EU-Befürworter unterzeichneten am Wochenende eine Online-Petition für ein zweites Referendum. Am Sonntag kamen pro Minute Tausende neue digitale Unterschriften hinzu. Der Ausgang des Referendums sei mit fast 52 Prozent Befürwortern einer Abkehr von der EU und gut 48 Prozent Gegnern extrem knapp gewesen, die Beteiligung mit rund 72 Prozent zu niedrig. Schon bei 100.000 Unterschriften muss das Parlament eine Debatte zumindest in Betracht ziehen.
Revolte gegen Corby
Der britische Labour-Abgeordnete David Lammy rief das Parlament auf, das EU-Referendum zu kippen. Das Ergebnis des Referendums sei nicht bindend, das Parlament solle es mit einem Votum außer Kraft setzen, forderte der Abgeordnete.
In Lammys Partei brach am Sonntag eine Revolte gegen Parteichef Jeremy Corbyn aus. Mehrere Mitglieder des Schattenkabinetts traten von ihren Posten zurück, um den Druck auf Corbyn zu erhöhen. Sie werfen ihm mangelndes Engagement im Brexit-Wahlkampf vor. Sie bezweifeln zudem, dass der 67-jährige Corbyn bei möglichen Neuwahlen ein Zugpferd für die Partei wäre. Dagegen ließ Corbyn, der erst im Spätsommer 2015 nach einer Urwahl an die Parteispitze rückte, signalisieren, dass er nicht an Rückzug denke. Corbyn gilt als ausgesprochener Linker in der Partei und als früherer Parteirebell - er hat seit langem viele Kritiker in Partei und Fraktion.
Wahlanalysen hatten ergeben, dass viele Labour-Hochburgen vor allem in Nordengland für einen Austritt aus der Europäischen Union gestimmt hatten. Corbyn hatte den Ausstieg aus der EU nur halbherzig bekämpft. Wenige Tage vor dem Referendum sagte er bei einem TV-Auftritt: "Ich bin kein Liebhaber der Europäischen Union", er plädiere aber für "Drinbleiben".
Beratungen in Berlin
Der Ausgang des Brexit-Referendums hatte in Europa Fassungslosigkeit ausgelöst. Bei einer Reihe von Treffen von Staats-und Regierungschefs und Ministern soll nach Auswegen aus der Krise gesucht werden.
Am Montagabend empfängt Merkel den französischen Präsidenten Francois Hollande, Italiens Regierungschef Matteo Renzi und EU-Ratspräsident Donald Tusk zu Beratungen in Berlin. Dabei geht es nicht nur um den EU-Austritt Großbritanniens. Angesichts der wachsenden Europaskepsis in vielen Ländern soll nach Wegen gesucht werden, wie die EU das Vertrauen der Menschen zurückgewinnen kann.
Die EU-Staats- und Regierungschefs kommen dann am Dienstag in Brüssel zu einem schon lange geplanten EU-Gipfel zusammen. Am zweiten Gipfeltag werden sie ohne Cameron beraten.
Das Brexit-Votum hat auch die US-Regierung in helle Aufregung versetzt, die um den Zusammenhalt Europas fürchtet. US-Außenminister John Kerry wird am Montag nach Brüssel und London fliegen.