Die Briten haben für Austritt aus der EU gestimmt. Erlischt damit ihre Mitgliedschaft automatisch?
Nein. Erst einmal bleiben sie weiter Mitglied in der EU - mit allen Rechten und Pflichten. Erst wenn sie der EU gemäss Paragraf 50 des EU-Vertrags der EU gegenüber in aller Form ihre Austrittsabsicht bekunden, beginnt die Austritts-Uhr zu ticken.
Und wie lange tickt die Uhr?
Vorgesehen ist in diesem Fall ein Zweijahres-Zeitraum, in dem die Austrittsmodalitäten und das neue Verhältnis zur EU ausgehandelt werden sollen. Haben sich beide Seiten binnen zwei Jahren auf keinen Austritts-Deal geeinigt, scheidet Grossbritannien vertragslos aus der Union aus - ausser alle EU-Partner stimmen einer Fristverlängerung für weitere Verhandlungen zu. Natürlich kann aber auch alles schneller gehen.
Wäre auch denkbar, dass London den Paragrafen 50 gar nicht in Anspruch nimmt?
Denkbar wäre es. Zunächst einmal hat das Referendum an sich keine rechtliche, bindende Wirkung in London. Es hat nur ratgebenden Charakter. Die Regierung entscheidet, wie es weiter geht. Konkret wird die Sache erst, wenn der Premierminister gegenüber der EU die Austrittsabsicht bekundet. Diesen Prozess kann er sogar ohne Parlamentsbeschluss einleiten. Erst einen in der Folge mit der EU ausgehandelten Austrittsvertrag muss er seinen Parlamentariern zur Absegnung vorlegen. Das wäre also wesentlich später der Fall.
Aber das Parlament würde doch nicht dem just bekundeten Willen des Volkes zuwider handeln?
Wohl kaum direkt. Aber man darf nicht vergessen, dass fast drei Viertel der 650 Abgeordnete im Unterhaus für die EU sind - und viele davon einen Brexit als Katastrophe für Grossbritannien betrachten. Diesen Volksvertretern bieten sich gewisse Möglichkeiten.
Was für Möglichkeiten?
Zum Beispiel könnten sie Einfluss auf den weiteren Verlauf der Dinge nehmen, indem sie die eigene Regierung abzubremsen oder wenigstens den Verbleib im Binnenmarkt - bei gleichzeitiger Akzeptanz der Freizügigkeit - zu sichern versuchten. Ausserdem müsste das Parlament jedes einzelne in britisches Recht übergegange EU-Recht wieder löschen, was Jahre in Anspruch nehmen und zu allerlei fraktionellen Manövern führen würde. Schon jetzt ist von heimlichen Plänen für eine parlamentarische "Guerrilla-Kampagne" die Rede, mit der der Brexit-Effekt "abgemildert" oder sogar noch die ganze Referendums-Entscheidung gekippt werden soll.
Könnte es auch zu Neuwahlen kommen?
Das wäre auch möglich. Theoretisch könnte sich das britische Parlament per Neuwahlen sogar ein frisches Pro-EU-Mandat verschaffen, welches das voran gegangene Referendums-Resultat "übertrumpfen" würde.
Es war auch schon von einem weiteren, zweiten Referendum die Rede?
Ein neues Parlament oder eine neue Regierung könnten natürlich auch ein neues Referendum abhalten. Einige Brexit-Leute, wie Boris Johnson, haben aus diesem Grund Neuverhandlungen mit der EU zwecks Erhalt zusätzlicher Sonderrechte für London und im Anschluss daran ein zweites Referendum ins Auge gefasst. Aber Neuverhandlungen mit der EU, um die britische EU-Mitgliedschaft doch noch zu retten, hängen natürlich am guten Willen aller EU-Partner. Da sehen auch auf der Insel die meisten Beobachter schwarz. Erwartet wird eher ein "europäisches Strafgericht" für die Briten.
Was ist denn dann am wahrscheinlichsten?
Dass David Cameron in den nächsten Tagen gemäss Paragraf 50 den Austritt erklärt und das vom Parlament absegnen lässt. Die Alternative wäre, dass man sich bei den Tories darauf einigt, die "Kündigung" noch aufzuschieben bis etwa in den Herbst - bis ein neuer Premier im Amt ist, der dann Austritts-Verhandlungen mit der EU führen soll.
Könnten Schotten, Waliser oder Nordiren denn ihrerseits den Brexit noch sabotieren?
Das ist eine interessante Frage. Tatsächlich sind die Parlamente in diesen drei Teilen des Vereinigten Königreichs dazu verpflichtet, keine Gesetze zu erlassen, die unvereinbar wären mit EU-Gesetzen. Das heisst: Wenn sich das Vereinigte Königreich ganz von der EU lösen wollte, müssten zum Beispiel die Schotten diesem Schritt in ihrem Edinburgher Parlament mit entsprechenden Massnahmen zustimmen. Sollten sie sich weigern, hätte Grossbritannien eine Verfassungskrise am Hals.
Steht den Briten nicht eh eine Verfassungskrise ins Haus, weil die in Edinburgh regierenden Schottischen Nationalisten das Land in der EU halten wollen - und bereits an ein erneutes schottisches Unabhängigkeits-Referendum denken?
Ja, die schottische Regierungschef Nicola Sturgeon hat ein solches zweites Schottland-Referendum, noch vor Inkrafttreten eines Brexit, als "echte Möglichkeit" bezeichnet. Zwar müsste Sturgeon einigen Druck auf London ausüben, um dies zu erreichen. Und sie müsste sich sicher sein, dass sie ein Schottland-Referendum diesmal wirklich gewinnen könnte. Aber ganz unmöglich wäre das nicht, im zu erwartenden politischen Durcheinander auf der Insel. Kürzlich ist schon bekannt geworden, dass Sturgeon unmittelbar eigene Verhandlungen mit Brüssel aufnehmen will, um die Bedingungen für einen Verbleib Schottlands in der EU zu klären - bevor Schottland zusammen mit England endgültig aus der EU kippt.