Mitten in der Debatte um einen Ausstieg aus der EU sorgt ein tödlicher Angriff auf eine Politikerin in Großbritannien für Entsetzen. Die 41-jährige Labour-Abgeordnete Jo Cox starb der Polizei zufolge am Donnerstag nach einer Attacke auf offener Straße. Ein 52 Jahre alter Mann sei festgenommen worden, das Tatmotiv noch unklar. Laut Medienberichten könnte es aber einen politischen Hintergrund geben.
Wahlkampf unterbrochen
Demnach sollen Augenzeugen berichtet haben, der Angreifer habe "Britain First" ("Großbritannien an erster Stelle") gerufen. Cox hatte sich öffentlich gegen einen Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union (EU) gestellt. Brexit-Befürworter und Gegner unterbrachen ihren Wahlkampf vor dem Referendum am kommenden Donnerstag.
Mittlerweile sind in Medien Details zu dem mutmaßlichen Täter bekannt geworden. Der Bruder des 52-jährigen Festgenommenen berichtete am Donnerstagabend gegenüber der Zeitung "Daily Telegraph" von einer langen Vorgeschichte psychischer Probleme des Mannes.
"Es fällt mit schwer zu glauben, was passiert ist", sagte Scott Mair der Zeitung. "Mein Bruder ist nicht gewalttätig, und er ist nicht besonders politisch." Der Bruder habe "eine Vorgeschichte psychischer Erkrankungen". Allerdings sei er in Behandlung gewesen, sagte Mair. In britischen Medien wurden auch Nachbarn zitiert, die den mutmaßlichen Täter als Einzelgänger beschrieben, der meistens für sich geblieben sei. Die Polizei machte zunächst keine Aussagen zu einem möglichen Motiv.
Waffen sichergestellt
Cox war kurz vor ihrer Sprechstunde als Abgeordnete im nordenglischen Birstall nahe Leeds attackiert worden. Medienberichten zufolge wurde auf sie eingestochen und geschossen. Über den Tathergang wurde aber auch berichtet, die Oppositionspolitikerin und zweifache Mutter habe in einen Streit zwischen zwei Männern eingegriffen, von denen einer eine Schusswaffe aus der Tasche zog und zwei Mal abdrückte. Die Polizei erklärte, auch ein 77-jähriger Mann sei angegriffen und verletzt worden. Er schwebe aber nicht in Lebensgefahr.
Der britische Fernsehsender BBC veröffentlichte Bilder, die zeigen, wie Beamte einen weißen Mann mit schütterem Haar überwältigten. Die Polizei erklärte, bei dem Festgenommenen seien Waffen sichergestellt worden, darunter eine Schusswaffe. Es werde von einem Einzeltäter ausgegangen, es laufe keine Fahndung.
"Britain First" ist der Name einer rechtsgerichteten Gruppe, die sich im Internet als eine Art Bürgerwehr und "patriotische Partei" beschreibt. Sie distanzierte sich aber entschieden von dem Angriff, den sie als "absolut widerlich" bezeichnete. Sie betonte, "Britain First" sei auch ein in der Brexit-Debatte üblicher Slogan von den Befürwortern eines EU-Austritts.
Tief gespaltenes Land
Die Brexit-Anhänger setzten ihre Kampagnen am Donnerstag aus, die Gegner wollen zusätzlich noch am Freitag pausieren. Wie sich Cox' Tod und die Unterbrechung im Wahlkampf auf die Volksabstimmung auswirkt, war zunächst ungewiss. Das Land ist tief gespalten über sein künftiges Verhältnis zur EU. Zuletzt lagen die EU-Treuen in Umfragen hinter dem Lager, das der Gemeinschaft den Rücken kehren will.
Einige Analysten gingen unmittelbar nach der Tat davon aus, dass die EU-Anhänger nun Rückenwind bekommen könnten. Zumindest schwand an den Finanzmärkten prompt die Furcht vor den Folgen eines Brexit: Die britische Währung erholte sich, nachdem sie zuvor noch an Boden verloren hatte. In New York drehten die US-Börsenbarometer im Handelsverlauf ins Plus.
Premierminister David Cameron sprach von einer Tragödie. Cox sei eine engagierte und fürsorgliche Parlamentarierin gewesen. Seine Gedanken seien jetzt bei ihrem Ehemann und den beiden kleinen Kindern. Mit ihnen hatte Cox in London auf einem in der Themse vertäuten Hausboot unweit des Tower gelebt. Ihr Ehemann Brendan Cox erklärte, seine Frau habe gewollt, dass sich nun alle vereinten, um gegen den Hass zu kämpfen, der sie getötet habe. "Jo glaubte an eine bessere Welt und kämpfte dafür an jedem Tag ihres Lebens."
"Hass hat keine Überzeugung"
Auch der österreichische Bundeskanzler Christian Kern (SPÖ) zitierte in einer auf Facebook veröffentlichten Reaktion das "klare, starke Statement" von Cox' Ehemann: "Hass hat keine Überzeugung, Ethnie oder Religion, er ist giftig." Kern zeigte sich "tief erschüttert und betroffen" und sprach der Familie der Getöteten sein Mitgefühl aus.
Nach dem Angriff in ihrem Wahlkreis war Cox noch schwer verletzt in ein Krankenhaus geflogen worden, wie es bei der Polizei und in Medienberichten hieß. In Birstall kamen Hunderte Menschen zu einer Kirchen-Mahnwache zusammen. In der britischen Hauptstadt wehten die Fahnen am Parlament auf Halbmast.
Der Chef der Labour-Partei, Jeremy Corbyn, erklärte: "Jo starb, als sie im Herzen unserer Demokratie ihren Dienst an der Öffentlichkeit tat, in dem sie den Menschen zuhörte, die sie zu ihrer Vertreterin gewählt hatten."
Kampf für Frauenrechte
Die Absolventin der Elite-Universität Cambridge war bekannt für ihren Kampf für Frauenrechte. Im Jahr 2008 engagierte sie sich zudem im Wahlkampfteam von US-Präsident Barack Obama. Bevor sie 2015 Abgeordnete für den Wahlkreis Batley and Spen wurde, arbeitete sie jahrelang für die Hilfsorganisation Oxfam.
Auch die deutsche Kanzlerin Angela Merkel verurteilte den Anschlag scharf. Der Vorfall sei "schrecklich, dramatisch", sagte Merkel. Auf die Frage, ob sie durch den Anschlag Folgen für die Brexit-Debatte sehe, erklärte die CDU-Chefin: "Ich möchte das jetzt in keinen Zusammenhang bringen mit der Abstimmung über den Verbleib Großbritanniens in der Europäischen Union."