Im Falle eines Votums für den EU-Austritt hat Premierminister David Cameron die Briten vor einem "verlorenen Jahrzehnt" gewarnt. Ein Brexit werde "ein Jahrzehnt der Ungewissheit" bringen und "Energie aus der Regierung und dem Land absaugen", sagte Cameron am Sonntag der BBC.

Brexit-Wortführer Nigel Farage von der rechtspopulistischen Ukip sagte dagegen: "Die Leute haben genug von den Drohungen des Premierministers". Wenn bei dem Referendum am 23. Juni der Ausstieg aus der EU beschlossen werden sollte, müsse mit der EU über die Konsequenzen verhandelt werden, sagte der Premierminister. "Sie müssten eine Handelsabkommen mit der EU aushandeln", sagte Cameron.

In den jüngsten Umfragen lagen die Brexit-Befürworter mehrfach vorn. In einer Umfrage der aktuellen "Sunday Times" entschieden sich 43 Prozent für den Brexit und 42 Prozent dagegen. Elf Prozent der Befragten zeigten sich unentschieden, vier Prozent gaben an, sich nicht an der Abstimmung beteiligen zu wollen.

Farage bezeichnete die EU als ein "gescheitertes Projekt". Die britische Bevölkerung wolle nicht länger mit Drohungen über die wirtschaftlichen Auswirkungen eines EU-Austritts überzogen werden, sagte der Chef der rechtspopulistischen Unabhängigkeitspartei Ukip.

In der Brexit-Debatte spielt auch die Frage eines möglichen EU-Beitritts der Türkei und der Visa-Freiheit für Türken eine Rolle. Cameron sagte, es werde "auf Jahrzehnte hinaus keine Beitrittsperspektive für die Türkei" geben. Gemessen an den Fortschritten der vergangenen Jahrzehnte werde dies "im Jahr 3.000" möglich sein. Innenministerin Theresa May und Außenminister Philip Hammond wandten sich gegen den "völlig falschen Eindruck", Großbritannien würde "einigen Türken eine Visa-Liberalisierung zugestehen".

"Schwarzes Loch"

In einem am Sonntag veröffentlichten Interview des "Observer" sagte Cameron zudem, ein Austritt aus der Europäischen Union würde ein "schwarzes Loch" in die öffentlichen Finanzen reißen.

Dieses könnte nur gestopft werden, wenn etwa auf jährliche Pensionserhöhungen, die Befreiung von Fernsehgebühren oder Gratis-Bustickets verzichtet werde. Auch im öffentlichen Gesundheitswesen müsse dann gespart werden. Seine Äußerungen waren offenbar insbesondere an die ältere Bevölkerung gerichtet, die als besonders euroskeptisch gilt.

Die Briten stimmen am 23. Juni über einen Verbleib in der EU ab. In den meisten Umfragen liefern sich Befürworter und Gegner ein Kopf-an-Kopf-Rennen. Nachdem eine am Freitag veröffentlichte Umfrage die Austrittsbefürworter mit 55 zu 45 Prozent vorangesehen hatte, zeigten zwei am Samstag veröffentlichte Umfragen die beiden Lager praktisch gleichauf. In einer Umfrage für die Zeitung "Observer" war das Verhältnis 42 zu 44 Prozent für die Brexit-Gegner, in einer Umfrage für die "Sunday Times" 43 zu 42 Prozent für die Brexit-Befürworter.

"Brücken bauen, nicht Grenzen"

Das Oberhaupt der anglikanischen Kirche, der Erzbischof von Canterbury, Justin Welby, stellte sich öffentlich auf die Seite der Befürworter einer EU-Mitgliedschaft. Er sei dafür "Brücken zu bauen, nicht Grenzen", schrieb das Kirchenoberhaupt in einem Beitrag für die britische Sonntagszeitung "Mail on Sunday".

Obwohl er ein Mann Gottes sei, erhebe er nicht den Anspruch, eine allgemeingültige Abstimmungsempfehlung abzugeben, schrieb Welby: "Ich habe in keiner Weise irgendeine göttlichen heißen Draht zur richtigen Antwort." Jeder Brite müsse sich selbst ein Bild machen. "Aber ich für meinen Teil werde für den Verbleib stimmen."