"Jetzt hat sich das Blatt gewendet", kommentiert das linksliberale Blatt am Samstag die Studie. Noch im April hätten 51 Prozent für einen Austritt und 49 Prozent für einen Verbleib plädiert. Vor einem Jahr habe das Lager der EU-Befürworter noch um zehn Prozentpunkte vorn gelegen.
Brexit-Befürworter Nigel Farage erwartet vom Votum seiner Landsleute den Anfang vom Ende der EU. "Dieses Referendum ist das wichtigste Ereignis seit 1957: Die EU steht vor dem Kollaps", sagte der Chef der rechtspopulistischen UKIP-Partei der italienischen Zeitung "Corriere della Sera" (Samstag). "Wir werden einen Domino-Effekt haben. Nach uns werden andere nördliche Länder austreten, eins nach dem anderen. Dänemark zuerst, dann die Niederlande, Schweden, Österreich." Von einem Brexit würden laut Farage die südlichen Nationen wie Italien, Griechenland oder Spanien profitieren, da der Euro als EU-Gemeinschaftswährung ihre Wirtschaft "zerstöre" und auch "eine Waffe für die deutsche Vorherrschaft" sei.
Die Mehrheit der Labour-Wählern will der neuen Umfrage zufolge in der EU bleiben, fast zwei Drittel der konservativen Tory-Anhänger wollen rausgehen. Für die Erhebung seien 2000 Briten am vergangenen Mittwoch und Donnerstag online befragt worden, hieß es. Bereits kürzlich hatte Online-Umfragen einen Anstieg der Zahl der Austrittsbefürworter registriert. Doch Experten warnen davor, diese Erhebungen überzubewerten. Bei den Parlamentswahlen vor einem Jahr waren die Demoskopen schwer daneben gelegen.
Im Interview für die Sonntagsausgabe der Tageszeitung "Österreich" warnt Bundeskanzler Christian Kern (SPÖ) vor einer Entscheidung Großbritanniens gegen den Verbleib in der EU. Kern: "Das wäre eine große Irritation der Wirtschaft und würde die Stimmung in Europa sehr negativ beeinflussen. Die zarte Hoffnung auf eine Erholung der Wirtschaft wäre damit sehr schnell zunichtegemacht."
Ironisch schlägt der Bundeskanzler den Briten laut Aussendung von "Österreich" eine Art Gegengeschäft vor: "Ich hoffe, dass sich die Engländer für den Verbleib in der EU entscheiden und fände es dann sehr gerecht, wenn sie im Gegenzug dafür Fußball-Europameister würden."
13 britische Nobelpreisträger sprachen sich in einem offenen Brief ebenfalls gegen einen "Brexit" aus. Die Nobelpreisträger erklärten in ihrem am Samstag im "Daily Telegraph" veröffentlichten Schreiben, der Wegfall der Förderung durch die Europäische Union berge für die britische Forschung "eine große Gefahr".
"Wissenschaft ernährt unseren Wohlstand, unser Gesundheitssystem, unsere Fähigkeit zur Innovation und unser Wirtschaftswachstum", hieß es in dem Aufruf der Nobelpreisträger, zu denen der Physiker Peter Higgs und der Biochemiker Paul Nurse gehören. Es wäre "naiv" den Versicherungen der Brexit-Anhänger Glauben zu schenken, wonach wegfallende EU-Mittel aus britischen Steuergeldern ersetzt würden.