Herr Wowereit, Sie waren von 2001 bis 2014 Regierender Bürgermeister von Berlin, einer Stadt, in der 28 Prozent der 3,5 Millionen Bewohner Wurzeln im Ausland hat und 15 Prozent Ausländer sind. In Bezirken wie Mitte, Neukölln und Friedrichshain-Kreuzberg hat nahezu jeder Zweite Migrationshintergrund. Die deutsche Hauptstadt hat früher als die meisten anderen Städte mit Brennpunktbezirken und No-Go-Areas zu kämpfen gehabt. Was kann man von Berlin in der aktuellen Flüchtlingskrise lernen für die Integration?
KLAUS WOWEREIT: Vorneweg: Für die Deutschen ist das Asylrecht ein unheimlich hohes Gut. Aus unserer Geschichte heraus wissen wir, dass viele Menschen, die aus Nazideutschland fliehen wollten, Schwierigkeiten hatten, aufgenommen zu werden. Einige Länder haben das damals trotz aller Probleme getan. Dafür sind wir dankbar und es ergibt sich daraus auch für uns eine große Verpflichtung. Das Asylrecht ist eines, dass man nicht einfach weg verhandeln kann. Es ist in unserer Verfassung verankert. Das Asylrecht kann man auch nicht kontingentieren. Es gilt für jeden, der verfolgt wird und sein Recht geltend macht. Trotzdem ist auch klar, dass für Integration irgendwann auch mal ein Punkt kommt, wo es ein Mengenproblem gibt. Denn es ist ja auch in ihrem eignen Interesse für die zu uns gekommenen, sie zu integrieren. Das ist die Ambivalenz, die man als politisch Handelnder hat. Zurzeit ist das, was wir an Flüchtlingen aufgenommen haben, eine Herausforderung, aber keine Bedrohung. Und die müssen wir jetzt aktiv angehen. Dieser Prozess ist nicht an einem Tag beendet. Die Integration dauert lange Zeit. Und es bedarf vieler Anstrengungen der Mehrheitsgesellschaft, weiterhin eine Willkommenskultur zu pflegen, die dann auch die Integration ermöglicht und nicht nur bei einer temporären Aufnahmen stehen bleibt.
Wenn man nun konkreter auf den Prozess schaut, den Berlin in den vergangenen Jahren bei der Integration durchgemacht hat. Sie mussten aktive werden, bei der Bekämpfung von Ghettobildung oder bei rechtsfreien Räumen, immerhin gab es Straßenzüge, wo sich die Polizei kaum noch in Streits libanesischer Großfamilien einmischen wollte. Das könnte jetzt wieder aufflammen, immerhin ist Berlin ein Magnet für Flüchtlinge. Was kann man tun, damit solche Brennpunkte nicht in ganz Deutschland und Österreich entstehen, wo die meisten Flüchtlinge ankommen?
WOWEREIT: Das ist zurzeit bei der Erstaufnahme kein Alternativprogramm mehr. Man hat nicht mehr 20 Standorte und kann sich einen davon aussuchen, sondern braucht jetzt alle 20 Standorte und sucht schon die nächsten zehn Standorte. Insofern ist das heute additiv. Wir haben uns vor der Krise darum gestritten, ob ein Gebiet belastet ist oder nicht. Das ist bei der Anzahl der Menschen, die zu uns kommen, hinfällig. Berlin hat allein im letzten Jahr 80.000 Flüchtlinge in Erstaufnahmezentren aufgenommen. Davon sind 50.000 Menschen auch in der Stadt geblieben plus den Zuzug, den wir sowieso haben. Das macht also 100.000 Menschen, die wir mehr haben in der Stadt und für die wir Wohnraum benötigen. Wir werden weiterhin Quartiersmanagement betreiben müssen. Wir müssen versuchen, Ballungen zu verhindern, aber das ist aus meiner Erfahrung in Berlin leichter gesagt als getan.
Warum?
WOWEREIT: Heute freut sich schon jeder, wenn man überhaupt eine Wohnung kriegt und dass dann räumlich zu verteilen, ist unheimlich schwer, auch rechtlich kaum machbar. Insofern wird wird die Verhinderung von Brennpunkten nicht so einfach sein. Und dann müssen Integrationsleistungen erbracht werden: Es müssen Arbeitsplätze zur Verfügung gestellt werden, damit den Menschen eine Perspektive gegeben wird, damit die Menschen, die motiviert nach Deutschland oder Österreich gekommen sind, mit ihrem Integrationswillen auch abgeholt werden. Denn wenn man sie alleine lässt, wenn man sie als Hilfsempfänger ohne Perspektive behandelt, dann werden sie für sich und ihre Kinder auch keine Perspektive empfinden. Das ist also eine sehr komplexe Aufgabe, die übrigens auch schon in den vergangenen 30 Jahren sehr komplex war.
Was zum Beispiel?
WOWEREIT: Wir haben aber die Erfahrung gemacht, dass man Integrationsprozesse durchaus beflügeln kann. Schwierig ist dabei oft der kulturelle Hintergrund und die Entwicklungsstufe gesellschaftlicher Prozesse. Auch die Akzeptanz von Regeln und gesellschaftlich relevanten Verhaltensweisen, die in Mitteleuropa üblich sind, die aber in anderen Kulturkreisen anders gesehen werden. Dazu zählt die Stellung der Frau in der Familie und in der Öffentlichkeit beispielsweise. Da ist noch viel aufzuarbeiten.
Müssen Sie sich eingestehen als langjähriger Chef der Stadt und des Bundeslandes Berlin, dass bei der Integration Fehler gemacht wurden oder die Politik nicht die richtigen Mittel gefunden hat?
WOWEREIT: Ja, das Thema Integration ist in einer freiheitlichen Grundordnung unheimlich schwer. Wir haben keine Residenzpflicht und können das auch nicht anordnen. Und es ist klar, dass sich in den innerstädtischen Bezirken im Westteil der Stadt die Problemfälle auch konzentriert haben, einfach weil dort der entsprechende Wohnraum dafür da war. Das war ein unterqualifizierter Wohnraum, preiswert und renovierungsbedürftig, wo viele Deutsche nicht mehr wohnen wollten. Darüber kam dann die Konzentration und dann kann ein Quartier auch ganz schnell mal kippen. Wir haben das aber erkannt und gegengesteuert mit Quartiersmanagement in solchen Gebieten. Wir haben Geld in die Hand genommen, um dort Eigeninitiative hervorzurufen. Ein gutes Beispiel ist auch die Rütli-Schule, die innerhalb kürzester Zeit von einer weit über die Landesgrenzen hinaus bekanntgewordene Skandalschule zu einer Vorzeigeschule geworden ist. Daran zeigt sich, dass man auch negative Entwicklungen wieder verändern kann. Aber man muss es dann eben auch aktiv tun.
Integration ist also nicht nur eine Pflichtveranstaltung für die Zuwanderer?
WOWEREIT: Integration hängt von zwei Faktoren ab. Einerseits vom Integrationswillen und von der Willkommenskultur. Dass heißt, die Mehrheitsgesellschaft hat die Aufgabe, die Arme auszubreiten und zu sagen: Ja, ihr seid willkommen. Aber ich erwarte auch von denen, die hiergekommen sind, dass sie selbst einen Beitrag leisten, die Sprache zu lernen, die Kultur zu akzeptieren, selber Anstrengungen zu unternehmen, um einen Job zu finden und sich integrieren lassen zu wollen. Das ist auch nachvollziehbar, schließlich sind sie ja auch gekommen, weil sie für sich keine Perspektive zu Hause mehr gesehen haben. Dort muss man sie selbstverständlich abholen können. Das funktioniert aber dann nicht, wenn ich ihnen keine Perspektive biete. Nun wird nicht jeder gleich einen tollen Job bekommen können. Auch das ist natürlich keine neue Erfahrung. Aber ich muss diejenigen, die zu uns kommen, qualifizieren und Abschlüsse anerkennen, wo sie vergleichbar und anerkennbar sind. Ich muss Hilfestellung leisten und dann gibt es auch berechtigte Hoffnung.
Sie sagen, man soll die Arme öffnen, aber auch Integrationswillen einfordern. Als Sozialdemokrat klingen Sie an diesem Punkt wie Bundeskanzlerin Angela Merkel. Worin unterscheiden sich da CDU und SPD überhaupt noch?
WOWEREIT: Naja nu. Was hat Angela Merkel noch mit der CDU zu tun? Und vor allem mit der CSU? Offensichtlich nicht viel. Da wo die Kanzlerin vernünftige Dinge sagt, wird die Sozialdemokratie sie auch unterstützen. Ich glaube, dass Frau Merkel etwas artikuliert hat, was in Deutschland nicht besonders populär ist. Sie hat deutlich gemacht, dass ein riesiges Land, ein wirtschaftlich sehr gut dastehendes Land wie Deutschland, das schaffen kann. Alle Eckdaten des Jahres 2015 waren hervorragend. Dass heißt nicht, dass es jedem einzelnen auch immer gut geht. Aber Deutschland in Gänze geht es sehr, sehr gut. Und deshalb nehmen wir als Land die Aufgabe an, aus humanitären Gründen Kriegsflüchtlingen zu helfen. Das zu organisieren ist eine Herausforderung. Und dabei den Mut zu haben, dass nicht jeder kann kommen, und dass es gibt Länder, in die abgeschoben wird. Die Sozialdemokratie hat noch anderer Ansätze, die nicht Merkel-kompatibel sind. Aber trotzdem sagte ich: Heute muss man Angela Merkel eher verteidigen.
Ist eine fehlende klare Haltung in der Flüchtlingskrise nicht vielleicht auch ein Grund neben den Teilung der Stimmen im Lager links der Mitte auf Grüne und Linkspartei, warum die SPD nicht mehr sexy ist? Liegt es nicht vielleicht auch daran, dass der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel beim Asylkompromiss in der Großen Koalition beim Familiennachzug sich erst auf die CDU und CSU eingelassen hat und damit eine Grundposition der SPD aufgegeben hat und dann innerparteilich zurückrudern musste?
WOWEREIT: Ich kann nicht ganz widersprechen. Es hat da mehrere Positionswechsel der SPD gegeben. Und übrigens auch bei den Grünen. Dort hätte vor Jahren auch keiner geglaubt, dass die Grünen zustimmen, Tunesien und Marokko als sichere Herkunftsländer zu benennen. In dieser Frage hat viel Bewegung stattgefunden. In solch einer sich verschärfenden Situation ist auch notwendig auf die Kommunen und Gemeinden, also die Praktiker vor Ort, zu hören, wie die bei aller Gutwilligkeit sagen: Jetzt geht es nicht mehr. Darauf muss dann in der Partei auch regiert werden. Das ist dann manchmal nicht mehr verbunden mit einer reinen Lehre. Auf der geraden Parteilinien müssen dann auch mal ein paar Abzweigungen gegangen werden. Insgesamt ist die SPD aber sehr konsequent und hat sehr viel Rückhalt in den eigenen Reihen. Insbesondere in einer Großen Koalition muss man Kompromisse machen, um den Menschen zu helfen. Das kann dann schnell missverstanden werden.
Einer dieser Praktiker aus ihrer Amtszeit war Heinz Buschkowsky, der als langjähriger Bezirksbürgermeister von Neukölln sich und den Brennpunktbezirk berühmt gemacht hat. Ein anderer war ihr nicht weniger bekannter, ehemaliger Finanzsenator Thilo Sarrazin. Beides sind Langzeit-Parteigenossen von Ihnen, beide haben umfangreich und mit alarmierenden Worten vor der Angst vor Überfremdung gewarnt. Sind das zwei Praktiker, auf die man hören muss?
WOWEREIT: Beide sind in der aktuellen Debatte nicht relevant. Sarrazin gar nicht und Buschkowsky auch nicht mehr so. Er ist ein begehrter und anerkannter Kommunalpolitiker, aber ja jetzt auch nicht mehr im Amt. Er ist auch nicht so zynisch wie der Sarrazin. Er verachtet die Menschen auch nicht. Er hat allerdings Thesen für Dinge, die er beschreibt, für die er selbst zuständig war. Wenn er beklagt, dass zu wenige Schulversäumnisanzeigen geschrieben worden sind, dann ist das seine originäre Zuständigkeit. Dann hätte er das auch mal machen sollen. Dass kein Journalist da mal nachfragt und er immer noch seine Stammtischparolen durchgehen lässt, dass gehört zum System, weil haben sie einen, den man vorführen kann.
Und Thilo Sarrazin?
WOWEREIT: Das gleich gilt für Sarrazin. Wenn man dem Affen immer Zucker gibt, dann wird er immer wieder seine Parolen dort bringen. Mir ist das zu primitiv. Und ich kenne Heinz Buschkowsky gut. Ich will nichts Böses über ihn sagen. Aber da gibt es auch Verantwortlichkeit mit immerhin 30 Jahren Erfahrung in der Kommunalpolitik in einem Bezirk, der immerhin 300.000 Einwohner hat. Er hat zwar nicht alle Rechte, aber er hat auch so viel Kompetenzen wie ein Politiker in Graz. Es gibt immer Menschen, die vorher immer alles gewusst haben und die Probleme beschreiben können, aber keine Lösungen aufzeigen. Hier geht es aber um Lösungen, dass hat Merkel in ihren letzten Fernsehinterviews sehr deutlich gemacht. Sie hat gesagt, sie ist in der Verantwortung Lösungen zu finden, auch für die furchtbaren Bilder von den Ereignissen an der Grenze zwischen Griechenland und Mazedonien. Wir bekommen alle einen Schrecken, wenn man diese Hilflosigkeit der Menschen sieht. Und eine Lösung ist nicht in Sicht. Da müssen Antworten gefunden werden und es reicht nicht, dass Problem zu beschreiben. Man kann die europäischen Staatschefs nur ermuntern, über ihren Schatten zu springen und eine gemeinsame europäische Antwort zu finden.
Aber gerade in Österreich stellt sich mit Werner Faymann ein sozialdemokratischer Kanzler gegen diese Politik. Der sozialdemokratische Noch-Premier Robert Fico in der Slowakei will sogar gar keine Flüchtlinge aufnehmen. Merkel nennt diese Verhalten uneuropäisch und muss sich entgegen halten lassen, dass ihre Durchwinkpolitik ebenso uneuropäisch gewesen sei, weil sie ja niemanden gefragt hat. Würden Sie als ehemaliger Vizevorsitzender der Bundes-SPD den beiden anderen europäischen Sozialdemokraten recht geben oder doch eher der CDU-Kanzlerin mit ihrem humanitären Imperativ?
WOWEREIT: Was die Kanzlerin in diesem Moment ihrer Aussage im Inneren bewegt hat, bleibt uns sicherlich noch verschlossen. Sie ist ein sehr rationaler Mensch. Sie neigt nicht zu spontanen Entscheidungen sondern eher zu langen Abwägungsprozessen. In diesem Augenblick hat sie eine Haltung gezeigt und die kann man falsch finden oder nicht. Ich glaube auch nicht, dass damit massenhaften Flüchtlingsströme in Bewegung gesetzt worden sind. Mit den heutigen Kommunikationsmitteln gab es sicher Hoffnungen, die geweckt wurden und sich schnell verbreitet haben. Aber man sieht auch jetzt, wo Grenzen geschlossen werden, dass die Menschen noch kommen, weil sie für sich einfach keine Perspektive mehr sehen. Wenn man dort keine Lösung findet, wird das auch weiter so sein. Dann werden Schleuser neue Wege finden, dann werden sie kriminelle Wege finden. Wir werden weiterhin in einer Welt leben, wo es Armutsgrenzen gibt, wo Dürrekatastrophen und politische Katastrophen die Menschen in Bewegung setzen. Das ist in der Geschichte der Menschheit nichts Neues.
Es gibt wenige Sätze, die man mit Politikern für immer fest verbindet. John F. Kennedy steht für den Satz „Ich bin ein Berliner“. Sie stehen sogar für zwei Sätze: „Berlin ist arm, aber sexy“ und „Ich bin schwul und das ist gut so“. Nun hängt an Angela Merkel der Satz: „Wir schaffen das“ Was macht so ein Satz mit einem Menschen?
WOWEREIT: Ach, das ist meist eine temporärer Erscheinung, die dann immer mal wieder auflebt, wenn es aktuell wird. Bei „Das ist auch gut so“ habe ich gemerkt, wie viele Menschen das benutzen. Ich habe dann geschmunzelt, wenn er in einem anderen Zusammenhang gebracht worden ist. „Arm aber sexy“ ist etwas, was das Lebensgefühl einer Stadt beschreiben sollte. Es gab bösartige, die das falsch interpretiert haben. Die gesagt haben, arm kann nicht sexy sein. Aber es war ja nicht gemeint, dass arm sexy ist, sondern eine positive Beschreibung dafür, dass man bei aller Armut auch sexy sein kann. Da muss man schon besonders bösartig sein, um das missverstehen zu können. Es ist andererseits schön, wenn man mit einem Satz verbunden wird. Das passiert nicht oft. Dafür zahlen andere viel Geld bei Werbeagenturen. Bei dem Satz „Wir schaffen das“ bin ich mir nicht sicher. Das ist noch zu abstrakt. Aktuell ist es Merkels Satz. Aber ob das langfristig auch an ihr hängen bleibt, dass wird sich erst zeigen.
INTERVIEW: INGO HASEWEND