Die Taschen, die Anna aus dem Supermarkt trägt, sind weiter voll mit Milch, Saft, Weißbrot und Hühnerfiletpackungen. Und den Geburtstag, den ihre zwölfjährige Tochter Sweta im Dezember mit vier Freundinnen in einem Vergnügungszentrum feiern will, wird sie sich 30.000 Rubel kosten lassen, gut 260 Euro oder ein Viertel ihres Monatsgehalts. Aber Anna fühlt sich unwohl. Weil sie das Geld nicht haben wird, wenn der Mieter ihrer Zweitwohnung in der Moskauer Vorstadt Chimki, die monatlich vereinbarten 55.000 Rubel (480 Euro) wieder unpünktlich zahlt. „Ein netter Mann“, seufzt sie. „Aber er hat jetzt auch Probleme.“
Noch gilt Moskau als Metropole der Putinschen Wohlstandsgesellschaft, ein Großteil der umgerechnet knapp 446 Milliarden Euro, die die Russen privat gespart haben, liegt auf Hauptstadtkonten. Aber auch die Moskauer leiden unter der Teuerung seit Februar 2022. Laut dem Wirtschaftsportal RBK beträgt die gemittelte Monatsmiete für eine Einzimmerwohnung jetzt 73,4 Prozent eines Moskauer Durchschnittsgehalts, die Mieten stiegen in neun Monaten 2024 um 40 Prozent. Weil viele Moskauer jetzt mieten, statt eine Wohnung zu kaufen. Das ist unbezahlbar geworden, es braucht jetzt zwei bis drei Gehälter, um die monatlichen Kosten einer Durchschnittshypothek zu bedienen. Das wiederum liegt am Leitzins der Zentralbank, inzwischen 21 Prozent. Ein seltsam hoher Wert für eine Inflationsrate, die nach offiziellen Angaben seit Jahresbeginn bei 7,8 Prozent liegt.
Erdäpfel wurden um 78 Prozent teurer
Aber unabhängige Experten zweifeln an der staatlichen Statistik. Die Forschungsgruppe Romir beziffert die Inflation von Februar 2022 bis Juli 2024 auf 71,4 Prozent. Auch nach offiziellen Angaben verteuerten sich Kartoffeln allein in den vergangenen zwölf Monaten um 78 Prozent, Butter um 32, Bananen um 47 Prozent.
Das drastische Anheben des Leitzinses, mit dessen Hilfe die Zentralbank seit 2008 mehrere Krisen meisterte, scheint nicht mehr zu wirken. Auch der Rubel rutscht ab, verlor allein seit August 24 Prozent gegenüber Dollar und Yuan, gestern wurde auch der Euro zu einem rekordverdächtigen Kurs von 114 Rubel gehandelt. Schon prognostiziert der Bloomberg-Ökonomist Alexander Issakow einen möglichen Leitzins von 25 Prozent, zum Entsetzen der Unternehmer. Auch kremlnahe Oligarchen wie Oleg Deripaska rechnen öffentlich vor, dass es für jeden Geschäftsmann rentabler und sicherer ist, sein Geld auf ein Sparkonto zu legen, als selbst überhöhte Kredite aufzunehmen, um zu investieren.
Entsprechend leiden die Hersteller. Das rüstungsgetriebene Wirtschaftswachstum der vergangenen beiden Jahre bewegt sich wieder Richtung Null. Selbst Stahl wurde zuletzt um 15,2 Prozent weniger produziert als im Vorjahr. Die Kohlebranche gilt mit umgerechnet 808 Millionen Euro Verlust im bisherigen Jahr als bankrottreif, in Kemerowo streiken die ersten Bergleute wegen vier Monate nicht gezahlter Löhne. Auch Igor Tschemesow, praktisch Chef der Rüstungsindustrie, klagt über eine Rentabilität von nur 2,3 Prozent. Seine Unternehmen benötigten direkte staatliche Finanzierung für Entwicklungsabteilungen, sonst müssten viele ums Überleben kämpfen.
Die Militärausgaben sollen 2025 auf 120 Milliarden Euro steigen, praktisch ein Drittel des Etats. Um das bezahlen zu können, erhöht das Finanzministerium die verschiedensten Steuern und Abgaben. Die Moskauerin Anna hat aber andere Summen im Kopf. Sie verhandelt mit ihrer Tochter, die soll ihr nach dem Geburtstag die Hälfte der Geldgeschenke ihrer Freundinnen zu den Unkosten zuschießen. Ob Anna Putins Kriegsspezial-Wirtschaft nicht langsam satt hat? „Ich liebe Russland“, sagt sie. „Von mir hört niemand etwas Schlechtes über mein Vaterland.“ Auch der Exilökonom Igor Lipsiz bezweifelt, dass die Russen wegen halbleerer Kühlschränke auf die Straße gehen. Aber es dürfte unruhig werden, wenn angesichts schrottreifer Rohr- und Stromsysteme im Winter die Heizung kalt bleibt.