Wenn die neue EU-Kommission nach 78 Stunden Hearings und wochenlangen Streitereien um einzelne Kandidaten letzten Endes doch noch durchgefallen wäre, hätte man die Schuld dem EU-Parlament zugeschoben – und das war letzten Endes keine Option. Also wurde in Straßburg das gesamte neue Kollegium mit 370 zu 282 Stimmen (36 Enthaltungen) endgültig abgesegnet und kann am kommenden Montag die Arbeit offiziell aufnehmen. Die Entscheidung fiel deutlich knapper als gedacht aus – es war das schwächste Ergebnis seit 1995; sogar die Abstimmung von Ursula von der Leyens erster Kommission vor fünf Jahren war viel deutlicher mit 461 zu 157 ausgegangen.
Die Fronten waren zunächst recht klar abgesteckt. Die Fraktionen der Linken und der Rechtspopulisten zogen am selben Strang und lehnten das Personalpaket ab. Erstere sprachen von „einer Farce“, für die „Patrioten“ sagte FPÖ-Delegationsleiter Harald Vilimsky, man lehne „diese Kommission mit einem fünffachen Nein“ ab. Weitaus schwieriger war die Entscheidung für die Grünen und die Sozialdemokraten. Lena Schilling und Thomas Waitz (Grüne) stimmten so wie ein Teil ihrer Fraktionskolleginnen und -kollegen gegen die Kommission, andere aus der Gruppe der grünen Abgeordneten wiederum stimmten zu. Ein ähnliches Bild gab es bei den Sozialdemokraten; letzten Endes stimmte die österreichische Delegation zu, bloß die frühere Vizepräsidentin Evelyn Regner enthielt sich der Stimme. Die Liberalen unterstützten die neue Kommission ebenfalls, ebenso die rechts der Mitte angesiedelte EKR, zu der auch Vizepräsident Raffaele Fitto gehört.
Höhere Verteidigungsausgaben gefordert
In ihrer Rede vor der Abstimmung, bei der sie jeden Kommissar einzeln vorstellte, hatte Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen als ersten kommenden Schritt einen „Kompass für Wettbewerbsfähigkeit“ angekündigt, der auf dem vielbeachteten Report von Mario Draghi basiert und drei Prioritäten umfasst: dem Schließen der Innovationslücke im Vergleich zu den USA und China, einem gemeinsamen Plan für Dekarbonisierung und Wettbewerbsfähigkeit sowie der Verbesserung der Sicherheit und dem Abbau von Abhängigkeiten. Bei den Zielen des „Green Deal“ sei man weiterhin auf Kurs, sie stellte einen „Clean Industrial Deal“ in den ersten 100 Tagen in Aussicht. Kommen soll auch ein strategischer Dialog über die Zukunft der Automobilindustrie in Europa. Von der Leyen versuchte, die Bedenken wegen des Liebäugelns mit rechten Fraktionen zu zerstreuen und versprach, „aus der Mitte heraus“ zu arbeiten, mit den „demokratischen proeuropäischen Kräften“. Von der Leyen forderte auch höhere Verteidigungsausgaben. Laut der Kommissionspräsidentin gebe Russland 9 Prozent seiner Wirtschaftsleistung für militärische Zwecke aus, die EU hingegen nur 1,9 Prozent. „In dieser Gleichung ist etwas falsch. Unsere Verteidigungsausgaben müssen erhöht werden“, sagte sie vor dem EU-Parlament.
Unmittelbar nach der Entscheidung nannte Migrationskommissar Magnus Brunner (ÖVP) im Gespräch mit Journalisten die Ausarbeitung einer Strategie im Bereich innere Sicherheit als Priorität für die ersten Wochen seiner Amtszeit. Weiters will er an der Reform der EU-Gesetze für Rückführungen arbeiten. Beim EU-Asyl- und Migrationspakt, dessen Umsetzung er als Kernaufgabe sieht, will Brunner aufs Reden und Zuhören setzen und sich auch umstrittene „innovative Projekte“ wie etwa jenes von Italien und Albanien anschauen. Brunner: „Nicht jedes Mitgliedsland hat dieselben Herausforderungen, aber am Ende wollen doch alle eine Lösung.