Erinnerungen leben auch von Auslassungen. Insofern sind Angela Merkels Memoiren, die seit Dienstag im Buchhandel sind, aufschlussreich. Die prägenden Stunden etwa um Griechenland und die Eurorettung im Juli 2015 wirken in den Erinnerungen reichlich undramatisch.

Anders lesen sich da die Passagen zu jenem Ereignis, das Merkels Kanzlerschaft bis heute nachklingen lässt: dem Entschluss zur Öffnung der deutsch-österreichischen Grenze für Geflüchtete in der Nacht zum 5. September. Kurz zuvor hatte Merkel am 31. August ihre Sommer-Presserunde gegeben. Migration war schon Thema und Merkel rätselte vorab in interner Runde, was sie sagen sollte. „Irgendwie werden wir auch das schaffen“, sinnierte Merkel mit Blick auf die Euro-Rettung und fand so zum ikonischen Satz ihrer Migrationspolitik: „Wir schaffen das.“

Für ihre Entscheidung spielte Österreich in Merkels Erinnerung eine entscheidende Rolle. Am 27. August weilt Merkel mit dem damaligen österreichischen Kanzler Werner Faymann auf einer Tagung in Wien. Die Meldungen von der Flüchtlingstragödie in Parndorf mit 71 Toten gehen um. „Faymann und ich schauten uns an. ,Schrecklich‘, flüsterte ich.“ Für Merkel ist klar, dass sich etwas ändern muss. Auch, weil Ungarns Premier Viktor Orbán die Lage eskalieren lässt. Am Abend des 4. September, so Merkel, meldete sich Faymann telefonisch. Er „fragte mich, ob wir, Deutschland und Österreich, uns die Aufgabe teilen könnten, er nehme die eine Hälfte auf, ich die andere“, enthüllt Merkel neue Details.

In Berlin beginnen dringliche Beratungen mit SPD-Chef Sigmar Gabriel und dem damaligen Außenminister Frank-Walter Steinmeier. Nur CSU-Chef Horst Seehofer geht nicht ans Handy. Den Kontakt zu Ungarn hält einzig Faymann. „Orban und mir war klar, dass wir in der Frage völlig gegensätzliche Ansichten hatten“, hält Merkel fest. Den entscheidenden Beschluss aber trifft die Kanzlerin allein. „Faymann wollte die Entscheidung nicht selbst treffen, die Entscheidung lastete auf mir und ich war entschlossen, sie wahrzunehmen“, notiert Merkel.

„Wir schaffen das“ - ein banaler Satz

Merkel steht zu ihrer Entscheidung. Auch im Rückblick. „,Wir schaffen das‘ – kein Satz ist mir so sehr um die Ohren gehauen worden wie dieser. Keiner hat so polarisiert. Für mich jedoch war dieser Satz banal. Er war Ausdruck einer Haltung“, hält Merkel fest. So ist es ihr Werk mit Faymanns kleinem Beitrag. 

Immerhin. Der Ex-Kanzler findet seinen Niederschlag in den Memoiren. Ein anderer österreichischer Regierungschef wird in den Memoiren nicht mal erwähnt. Sebastian Kurz. Vernachlässigbar für die große Geschichte. Aus Merkels Sicht. 

Die Altkanzlerin verbindet übrigens viel mit Österreich. Sie bereiste das Land schon als Kind. Im Sommer 1961, kurz vor dem Mauerbau. Merkel machte mit Eltern und Oma Urlaub in Bayern. Mit Ausflügen nach Salzburg und Innsbruck, wie sie festhält. 1998 kam Merkel zum Treffen der EU-Umweltminister nach Graz. Geblieben ist seither eine Freundschaft. „Die Gastgeber des Rats im österreichischen Graz, Ilse und Martin Bartenstein, sind noch heute Freunde von Joachim und mir.“ Chemie verbindet. Das weiß auch die Physikerin Merkel.