Auch viele Rumänen rieben sich am Montagmorgen verwundert die Augen. Mit der Kunde eines klaren Siegs des sozialistischen Premiers Marcel Ciolacu (PDS) in der ersten Runde der Präsidentschaftskür waren sie nach Bekanntgabe der ersten Exitpolls ins Bett gestiegen. Mit der Nachricht seines kläglichen Scheiterns wachten sie wieder auf.
Den Etappensieg hat stattdessen ein rechtsextremer Außenseiter eingefahren, den vor dem Urnengang kein einziges Umfrageinstitut im Blick hatte: Der völlig unerwartete Wahltriumph des als unabhängiger Kandidat ins Rennen gegangenen Agrarwissenschaftlers Calin Georgescu hat im Karpatenstaat ein politisches Erdbeben ungekannten Ausmaßes ausgelöst.
Mit 22,95 Prozent der Stimmen distanzierte der 62-jährige Newcomer nicht nur den haushohen und tief gefallenen Umfragefavoriten Ciolacu (19,15 Prozent), der beim Kopf-an-Kopf-Rennen um den Einzug in die Stichwahl im letzten Moment auch noch die liberale URS-Chefin Elena Lasconi (19,17 Prozent) an sich vorbeiziehen lassen musste.
Dank seines erfolgreichen Tiktok- und Facebook-Wahlkampfs distanzierte der russophile Nato-Gegner auch andere Konkurrenten im 13-köpfigen Kandidatenfeld, die in den Umfragen zuvor noch weit vor ihm gelegen hatten – wie den nationalistischen AUR-Chef George Simion (13,87 Prozent), den konservativen PNL-Chef Nicolae Ciuca (8,79 Prozent) oder den früheren stellvertretenden Nato-Generalsekretär Mircea Geoana (6,32 Prozent).
„Wer ist Calin Georgescu?“
Die Hoffnungsträger der Regierungsparteien PSD und PNL erlebten ein Debakel. Über ein Drittel der Wähler stimmten für russophile Rechtsradikale. Als „mit Russland verbündeten Kandidaten“ feierte im fernen Moskau die Kreml-Agentur RIA Novosti den Überraschungssieger. „Wer ist Calin Georgescu?“, fragte sich wie andere Medien in Rumänien hingegen am Montag das Nachrichtenportal „Digi24“: Denn auch für viele Rumänen war der im Stimmenstreit von Medien, Meinungsforschern und der Konkurrenz weitgehend ignorierte Ultranationalist bisher ein weitgehend unbeschriebenes Blatt.
Lob für Diktatoren und Faschisten
Der 1962 geborene Agrarwissenschaftler studierte und promovierte in seiner Geburtsstadt Bukarest. Nach der rumänischen Wende begann er seine berufliche Karriere 1991 als Berater im Umweltministerium des konservativen Premiers Theodor Stolojan. In den folgenden zwei Jahrzehnten machte er sich auch bei den Vereinten Nationen als Fachmann für nachhaltige Entwicklung einen Namen. 2011 und 2012 wurde Georgescu zeitweilig als potenzieller Nachfolger für den konservativen Premier Emil Boc gehandelt. Doch erst als der nationalistischen AUR 2020 der Einzug ins Parlament gelang,, begann er sich als deren Premierkandidat als rechtsradikaler Heilsbringer einen Namen zu machen.
Doch seine Interview-Huldigung von Rumäniens Ex-Diktator Ion Antonescu und anderen Faschisten der 30er und 40er Jahre als „Helden“, die ihm strafrechtliche Ermittlungen der Staatsanwaltschaft bescherte, ging selbst AUR-Chef Simion zu weit. Statt Georgescu wie geplant zum EU-Ehrenpräsidenten zu ernennen, warf er ihn im Februar 2022 aus der Partei.
Bots und Trolle: Mischte Moskau mit?
Dass nicht wie erwartet Simion, sondern offensichtlich Georgescu von der Annullierung der Kandidatur der prorussischen SOS-Europaparlamentarierin Diana Sosoaca durch das Verfassungsgericht profitiert hat, erklärt der stellvertretende AUR-Chef Marius Lulea auch mit der vermeintlichen Vorliebe von Protestwählern für parteilose Kandidaten: „Es war eine Abstimmung gegen das System und gegen die Parteien – und wir sind eine Partei.“
Aufschlussreich ist indes seine Erklärung, wie sich der vermeintliche Dreiprozent-Kandidat Georgescu vermutlich erst in der letzten Wahlkampfwoche an der Konkurrenz vorbeischob: Sie bestärkt den Verdacht, dass Moskau – ähnlich wie in der benachbarten Republik Moldau – auch in Rumäniens Stimmenstreit kräftig mitgemischt haben könnte.
Es sei letzte Woche auf Tiktok und Facebook zu einer „organisierten Online-Aktion“ mit verstärktem Bots- und Troll-Einsatz und der Hilfe „leistungsstarker Software“ gekommen, um die „öffentliche Meinung mithilfe gefälschter Konten zu manipulieren“, so Lulea gegenüber dem Portal „hotnews.ro“.
„Hat uns begraben“
Katzenjammer, Wundenlecken und Schuldzuweisungen und erste Versuche sind mit Blick auf die Parlamentswahlen am kommenden Wochenende derweil bei den Wahlverlierern in den Regierungsreihen angesagt. Als PSD-Chef scheint Premier Ciolacu vor dem Ende zu stehen: Er hat nicht nur das schlechteste Ergebnis aller PSD-Präsidentschaftskandidaten in den letzten 20 Jahren eingefahren, sondern ist als erster PSD-Hoffnungsträger bereits in der ersten Wahlrunde gescheitert.
Wütende „Abtritt-, Abtritt-Rufe“ erschallten in der Wahlnacht auch im Hauptquartier der PNL. Die Koalition mit dem Erzfeind PSD sei seiner Partei „teuer zu stehen gekommen“, so der PNL-Politiker Adrian Cozma, der auch den scheidenden Präsidenten Klaus Johannis für das Wahldebakel verantwortlich machte: „Das erste Mandat von Johannis hat uns geholfen, das zweite hat uns begraben.“