Zuwarten. Das ist das entscheidende Prinzip. Auch in dieser Stunde. In Deutschland stehen vorgezogene Neuwahlen an. Die in allen Umfragen führende Union landet am Wahltag überraschend nur knapp vor der SPD des amtierenden Kanzlers. Der ledert nach Schließung der Wahllokale in einer TV-Runde los: „Glauben Sie im Ernst, dass meine Partei auf ein Gesprächsangebot einer Regierung unter Ihrer Führung einginge?“ Doch gegenüber bleibt es ruhig. „Warte ab, was weiter passiert. Reg dich bloß nicht auf, sprich nur, wenn du angesprochen wirst, guck, wohin das führt“, lautet die Devise. Die Methode am Wahlabend des 18. September 2005 zeigt Erfolg. Bald darauf löst Angela Merkel den polternden Gerhard Schröder im Amt des Bundeskanzlers ab. Sie wird sechzehn Jahre regieren und die Methode des „Warte ab“ zur politischen Kunstform erheben.


Genau drei Jahre ist Merkel jetzt aus dem Amt. Rote Rosen hat es damals zum Abschied musikalisch geregnet. Doch sind die Zeiten längst andere. Viel ist passiert, seit Merkels Abgang. Von Russlands Überfall auf die Ukraine, über die Zeitenwende bis zur Krise der deutschen Wirtschaft. Und wieder stehen vorgezogene Neuwahlen an. Ein perfekter Zeitpunkt, ihre Autobiografie vorzulegen. „Freiheit“, lautet der Titel der Memoiren, die kommende Woche erscheinen. Weltweit. In mehr als dreißig Ländern. Von einem zweistelligen Millionen-Honorar ist die Rede. Doch geht es Merkel,70, nicht ums Geld. Eher um ihr Vermächtnis. Und ihr Bild in der Geschichte.

Freiheit als Lebensprinzip

Freiheit ist Merkels Lebensprinzip. Als Kind zu DDR-Zeiten erlebt Merkel dies vor allem in der Familie. Von einem „Schutzraum“ spricht sie. Ihr Vater, der evangelische Pastor Horst Kasner, arbeitet nördlich Berlins auf dem „Waldhof“, einem Behindertenheim. Vor allem eine prägt das Kind: Mutter Herlind Kasner: „Sie war für mich da, wann immer ich sie brauchte“, notiert Merkel.

Das war bekannt, spannend wird es, wenn sich die ehemalige Kanzlerin der aktuellen Politik nähert. Fehler in ihrer Russland-Politik mag sie nicht erkennen. Auch, den verwehrten Weg der Ukraine in die Nato auf dem Bündnis-Gipfel in Bukarest 2008 verteidigt Merkel. Es sei ihr ums Abwägen gegangen zwischen Russlands Interessen und dem Schutzbedürfnis der Ukraine. „Außerdem unterstützte damals nur eine Minderheit der ukrainischen Bevölkerung eine Mitgliedschaft des Landes in der Nato. Ein tiefer Riss ging durch das Land“, versucht Merkel ihre Blockade des Einstiegs in eine Nato-Mitgliedschaft zu rechtfertigen.

Putin: „Selbstgerechtigkeit regte mich auf“

Doch liefert Merkel die Gegenargumente gleich mit. Ein Jahr vor dem Bukarest-Gipfel hatte Russlands Staatschef Wladimir Putin auf der Münchner Sicherheitskonferenz gepoltert. Die Kanzlerin verfolgt die Rede aus der ersten Reihe. „Mich regte vor allem seine Selbstgerechtigkeit auf“, hält Merkel fest. Über Putin macht sie sich keine Illusionen. Er „setzte alles daran, Russland wieder zu einem Akteur auf der internationalen Bühne zu machen“, stellt sie in ihren Memoiren fest. Und: „Um den Aufbau demokratischer Strukturen oder Wohlstand für alle durch eine gut funktionierende Wirtschaft ging es ihm nicht, weder in seinem Land noch anderswo.“

Dennoch bleibt es in Bukarest bei einem fahlen Kompromiss: Die Ukraine (und Georgien) erhalten lediglich eine vage Nato-Perspektive, keine konkreten Beitrittsschritte. Fatal, und das gleich doppelt: „Dass Georgien und die Ukraine keine Zusage bekamen, war für sie ein Nein zu ihren Hoffnungen. Dass die Nato ihnen zugleich eine generelle Zusage für ihre Mitgliedschaft in Aussicht stellte, war für Putin …eine Kampfansage.“ Ein Hauch von Selbstkritik. Überraschend.

Und plötzlich wieder aktuell

Und spannend in einer Zeit, in der über mögliche Gespräche zwischen der Ukraine und Russland sinniert wird. In den Verhandlungen geht es in erster Linie nicht um Land gegen Frieden, sondern um Frieden gegen Sicherheit. Das ist für die Ukraine nur in der Nato gegeben.

Merkel-Biograf Ralph Bollmann hat schon vor drei Jahren notiert, dass das Land sich wehmütig an ihre Kanzlerschaft als eine goldene Ära erinnern werde. So wirkt manches wie Notizen aus einer schon lange versunkenen Welt. Anderes hingegen sehr aktuell.

Donald Trump und Angela Merkel | Merkel erinnert sich an Trump und kann wenig Gutes sagen
Donald Trump und Angela Merkel
| Merkel erinnert sich an Trump und kann wenig Gutes sagen © AFP / Saul Loeb

Drei Jahre lang hat Merkel an ihren Memoiren gearbeitet. Nun ist mancher plötzlich aus der Geschichte zurück auf der aktuellen Bühne. Donald Trump etwa. Merkel schildert die erste Begegnung der beiden im Weißen Haus 2017 und Trumps legendäre Verweigerung zum Handschlag. Ihr Fazit: „Eine gemeinsame Arbeit für eine vernetzte Welt wird es mit Trump nicht geben. Er beurteilte alles aus der Perspektive des Immobilienunternehmers, der er vor der Politik gewesen war. Jedes Grundstück konnte nur einmal vergeben werden. Bekam er es nicht, bekam es ein anderer.“ Nicht eben fein, aber lehrreich.

Ebenso wie die Feststellung der früheren Kanzlerin über ihre Erfahrungen in der Politik: „Frau zu sein, das spürte ich, war definitiv kein Vorteil.“ It’s a man‘s world - eine bittere Erkenntnis im 21. Jahrhundert. So hat auch Merkel nicht einen erneuten Sieg Trumps erwartet. „Zu dem Zeitpunkt, da ich diese Zeilen schreibe, ist der Ausgang der amerikanischen Präsidentschaftswahl im November 2024 noch offen. Ich wünsche mir von Herzen, dass sich Kamala Harris durchsetzt“, so Merkel. Es sollte anders kommen. Auch Große können irren.