Mehr als 78 Stunden lang wurden die Kandidaten für die neue Kommission bei den Hearings „gegrillt“, am Ende sitzen alle in der gleichen Warteschleife fest – die einen rein politischen und keinen sachlichen Hintergrund hat, wie Kritiker anmerken. Zunächst war alles fad, aber halbwegs gut gelaufen. Der einzige, der nicht gleich überzeugen konnte und deshalb schriftliche Fragen nachgereicht bekam, war Oliver Varhelyi, Viktor Orbáns Mann in Brüssel. Es gilt trotzdem als höchst unwahrscheinlich, dass Varhelyi, der ja schon bisher Kommissar (für Erweiterung) war, hinausfliegt: Dann könnte nämlich Orbán die ganze Kommission in Geiselhaft nehmen und sich ewig Zeit lassen mit einer Nachnominierung (und die könnte dann auch noch eine besonders originelle Personalie sein). Aber am letzten Tag, als es um die sechs Vizepräsidenten ging, wurden alle Befürchtungen zur Realität.
Die Kontroverse läuft zwischen Volkspartei und Sozialdemokraten. Letztere haben keine Freude mit dem hohen Amt eines Vizepräsidenten für den italienischen Rechten Raffaele Fitto, der aber klar von der EVP unterstützt wird. Im Gegenzug setzt die EVP die sozialdemokratische Kandidatin Teresa Ribera Rodriguez unter Druck, die sich erst den Konsequenzen der Hochwasserkatastrophe in Spanien stellen soll, wo sie als Ministerin ins Visier geraten ist. Nächste Woche ist noch Zeit, dann sollten die Streitigkeiten der pro-europäischen Mitte beendet sein, sonst wird das nichts mehr mit einem Neustart der Kommission im Dezember.
Zeugnisse für Kandidaten
Nach den Hearings gibt es inzwischen so etwas wie Zeugnisse für die Kandidaten, aus individueller Sicht. So hat Lena Schilling (Grüne) für den Umweltausschuss Zweifel, „ob die neue Kommission dafür ausgerüstet ist, den Klimakollaps abzuwenden“. Ribera (Wettbewerb und Green Deal), Wobke Hoekstra (Klima) und Apostolos Tzitzikostas (nachhaltiger Transport und Tourismus) hätten etwa gezeigt, dass sie den Green Deal ernst nehmen, auf der anderen Seite hätten etwa Jessika Roswall (Umwelt, Wasser, Kreislaufwirtschaft) durch „schwammige Worthülsen“, Varhelyi (Gesundheit und Tierwohl) als „Sprachrohr für Agrar-Großbetriebe“ und Fitto (Kohäsion und Reformen) durch „rückschrittliche Argumente“ enttäuscht.
Eine ähnliche Bewertung haben diese Woche auch die österreichischen Sozialdemokraten vorgenommen, die bei den meisten Kandidaten durchaus gute Ansätze sehen. Kritik geübt wird ebenfalls an Varhelyi, Fragezeichen gibt es bei Jozef Sikela (Internationale Partnerschaften), Piotr Serafin (Haushalt) oder Hadja Lahbib (Gleichstellung). EU-Abgeordnete Evelyn Regner kritisierte den Streit um die Kandidaten: „Früher war das Match EU-Kommission gegen EU-Parlament, das Parlament zeigte Muskeln.“ Diesmal ginge es den „Parteienfamilien darum, den anderen Fraktionen ans Bein zu pinkeln“. Delegationsleiter Andreas Schieder sieht den Fehler darin, dass Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen „zu viele Zusagen gemacht hat, die sie nun nicht alle einhalten kann“.
„Pfizergate“ vor Gericht in Luxemburg
Für von der Leyen ziehen inzwischen ein paar Gewitterwolken aus der Luxemburger Gegend auf, da fand am Freitag vor dem Gerichtshof der EU eine Verhandlung in Sachen „Pfizergate“ statt. Im Kern geht es um die Handy-Textnachrichten zwischen der Präsidentin und dem Pfizer-Chef Albert Bourla, Basis für den Impfstoff-Deal in Gesamthöhe von 35 Milliarden Euro. Die „New York Times“ hatte auf Herausgabe der Konversation geklagt, es handle sich um offizielle Dokumente – was die Kommission jedoch bestreitet, es habe sich nur um „kurzlebige Nachrichten“ gehandelt. Die Texte werden wohl nirgends mehr gespeichert sein, ein Erkenntnis in dem Verfahren (das sich an die Kommission als Behörde, nicht gegen die Präsidentin richtet), wird in einigen Monaten erwartet.
Während sich also die EU wieder einmal in sich selbst verheddert, tritt ein Mann, der das Brüsseler Getriebe wie seine Westentasche kennt, immer stärker ins Rampenlicht: Donald Tusk. Der Ex-Ratspräsident hat Polen für die EVP wieder „umgedreht“ und zieht inzwischen auch international die Fäden – unter anderem als Antwort auf seinen Namensvetter auf der anderen Seite des Atlantiks. Tusk trifft sich mit Emmanuel Macron, dem britischen Premierminister Keir Starmer, Nato-Generalsekretär Mark Rutte sowie den Führern der nordischen und baltischen Staaten, um eine gemeinsame Linie in Hinblick auf die Ukraine zu finden. Zumindest in dieser Frage könnte das Match bald auf eine Entenhausen-Situation hinauslaufen: Donald gegen Donald. Da passt es perfekt, dass die Tage der ungarischen Ratspräsidentschaft gezählt sind. Wer folgt ab Jahreswechsel nach? Polen und Donald Tusk.