Die entscheidenden Stunden der US-Wahl hat Kamala Harris in der Howard University verbracht. Die als das „schwarze Harvard“ bekannte Universität schien der passende Ort für die wohl bedeutendste Nacht im Leben der 60-Jährigen, nicht nur, weil Harris dort 1986 selbst ihren Abschluss gemacht hat. Die Vizepräsidentin wollte den möglich scheinenden Sieg in der Mitte jener Wählergruppe feiern, die sie über die Schwelle von 270 Wahlmännerstimmen tragen sollte. Auf den Jungen, mobilisiert von der Abtreibungsdebatte und der Sorge um eine unter Donald Trump zerbröselnde Demokratie, lag eine der großen Hoffnungen der Demokraten.
Die Erwartung, dass die Jungen zusammen mit einem starken Ergebnis auch bei älteren Frauen den Ausschlag für Harris geben werden, hat sich allerdings nicht erfüllt. Vor allem das Thema Abtreibung zog quer durch alle Bevölkerungsgruppen nicht so stark wie von den Demokraten angenommen. Laut einer Nachwahlbefragung der „Washington Post“ gaben nur 14 Prozent der Wähler Abtreibung als zentrales Wahlmotiv an. Harris, die das Thema nach den vielen zugunsten der Abtreibungsbefürworter ausgegangenen Referenden auf Bundesstaatsebene zu einem zentralen Pfeiler ihrer Kampagne gemacht hatte, hat damit ganz offensichtlich auf das falsche Pferd gesetzt. Der scheidende Präsident Joe Biden hatte 2020 mehr Frauen von sich überzeugen können als nun Harris.
Zwei Drittel sehen Wirtschaft in schlechtem Zustand
Am wichtigsten war den Wählern neben dem Zustand der Demokratie (35 Prozent) das Thema Wirtschaft (31 Prozent). Zwar steht die US-Wirtschaft dank eines starken Arbeitsmarktes, einer mittlerweile deutlich gesunkenen Inflation und nach oben zeigenden Aktienkursen auf dem Papier gut da, doch bei den Wählern gibt es ganz offensichtlich ein anderes Gefühl. 67 Prozent der Bürger sind laut der Nachwahlbefragung der Ansicht, dass sich die Wirtschaft in einem nicht so guten oder gar schlechten Zustand befindet. Die im Wahlkampf so häufig gestellte Frage „Geht es Ihnen heute besser als vor vier Jahren?“ beantworteten viele Amerikaner also ganz klar mit „Nein“.
Davon dürfte Donald Trump, der bei seinen Wahlkampfauftritten immer wieder den Niedergang Amerikas ins Zentrum gerückt hatte, stark profitiert haben. In so gut wie jeder Umfrage in den vergangenen Monaten sprachen die Amerikaner dem künftigen US-Präsidenten in dieser Frage deutlich mehr Kompetenz zu als Harris. „It’s the economy, stupid!“, das Leitmotiv, mit dem Bill Clinton 1992 das Weiße Haus erobert hatte, gilt somit auch 32 Jahre danach.
Geschadet dürfte es Harris zudem haben, dass es ihr nicht gelungen ist, sich von Joe Biden abzunabeln. Die Vizepräsidentin versprach zwar einen Aufbruch und ein neues, positives Amerika jenseits eines wild um sich schlagenden Trump. Doch aus Sicht vieler sich nach einem Wechsel sehnender Wähler stand Harris nicht für Wandel, sondern für die Fortsetzung der Politik des scheidenden Präsidenten, der schon seit knapp drei Jahren mit miserablen Zustimmungswerten kämpft. Eine geringere Rolle als vielfach erwartet, dürfte in diesem Zusammenhang allerdings die Migrationsfrage gespielt haben, die nur für elf Prozent der Wähler das wichtigste Wahlmotiv war.
Nicht bereit für die erste weibliche Präsidentin
Was die Nachwahlbefragung indirekt auch nahelegt, ist aber, dass die USA acht Jahre nach dem Antreten von Hillary Clinton nach wie vor nicht bereit sind, eine Frau an die Spitze zu wählen. So holte Trump landesweit bei den Männern 54 Prozent der Stimmen, nur bei schwarzen Männern und Weißen mit College-Abschluss lag Harris vorne. Anders als Clinton hat Harris ihr Frau-Sein nie zum Kampagne-Thema gemacht, doch Experten sehen einen klaren Zusammenhang. Laut einer Studie von drei Forschern der University of Massachusetts sprachen sich Wähler mit frauenfeindlichen Einstellungen zu 80 Prozent für Trump aus.