Fethullah Gülen prägte die türkische Politik mehr als drei Jahrzehnte mit, wurde als Heilsbringer gefeiert und als Staatsfeind verfolgt. Jetzt ist der Prediger mit 83 Jahren im amerikanischen Exil gestorben. Sein Tod beendet eine Ära und stärkt Präsident Recep Tayyip Erdogan. Der Staatschef war lange mit Gülen verbündet, bekämpfte ihn aber seit zehn Jahren als Erzfeind. Anhänger von Gülens islamischer Bewegung putschten 2016 gegen Erdogan und werden seitdem erbarmungslos verfolgt. Der Druck auf die Gülen-Gruppe dürfte auch nach dem Tod ihres Anführers anhalten.
„Fethullah Gülen war bis zum gescheiterten Putsch einer der einflussreichsten islamischen Geistlichen in der Türkei“, sagte der Türkei-Experte Hüseyin Cicek von der Universität Wien unserer Zeitung. Cicek nennt Gülen „eine Art ‚Kardinal‘ des türkischen Islam“. In den frühen 1990er Jahren waren Gülens Absage an fundamentalistische Strömungen im Islam und seine Vorstellung von einem türkisch-nationalistischen Islam staatskonform. Regierungspolitiker und Militärs förderten Gülens Netzwerk von Schulen auf dem Balkan und in Zentralasien. Doch dann wurde Gülen ihnen zu einflussreich: 1999 musste er in die USA fliehen. Er kehrte nie wieder in die Türkei zurück.
Machtkampf
Vom US-Bundesstaat Pennsylvania aus steuerte Gülen die weltweiten Aktivitäten seiner Anhänger, von denen viele in Justiz, Armee, Polizei und Verwaltung der Türkei aufstiegen. Der Prediger verbündete sich in den 2000ern mit Erdogans Partei AKP im Kampf gegen die politische Vormundschaft der Militärs. Noch im Jahr 2012 rief Erdogan den Geistlichen zur Rückkehr aus den USA auf. Kurz darauf überwarfen sich Erdogan und Gülen im Kampf um die Aufteilung der Macht. Gülen-treue Staatsanwälte leiteten Ermittlungen gegen AKP-Politiker wegen Korruption ein. Erdogan warf seinem früheren Partner vor, Parallelstrukturen im Staat aufgebaut zu haben. Der Machtkampf endete mit dem Putschversuch von 2016, an dem Gülen-Anhänger zumindest mitwirkten. Gülen dementierte jede Beteiligung.
Nach dem Putschversuch verfolgte Erdogans Regierung die Gülen-Gruppe, die zur Terrorgruppe „Fetö“ – als Kürzel für Terroristische Organisation der Fethullah-Anhänger – erklärt wurde. Erdogan sprach vom Kampf gegen den Terror, seine Gegner von einer Hexenjagd. Mehr als 700.000 Menschen seien seit 2016 festgenommen oder inhaftiert worden, sagte der Gülen-nahe Exil-Journalist Abdullah Bozkurt unserer Zeitung. Über 125.000 seien verurteilt worden, fast 30.000 Soldaten, Richter und Staatsanwälte wurden entlassen. Hunderte Journalisten kamen demnach in Haft, mehr als 200 Medien wurden verboten. Der türkische Geheimdienst hat mehr als hundert Verdächtige ohne Auslieferungsverfahren aus dem Ausland zurückgeholt, um sie vor Gericht zu stellen.
Säuberungswelle
Die Säuberungswellen trugen zur Entfremdung zwischen der Türkei und der EU bei und vergiften bis heute das innenpolitische Klima. Gülen-Verdächtige seien häufig „sozial getötet“ worden, sagt der Türkei-Experte Howard Eissenstat, Laurentius-Professor und Dekan der Geschichtswissenschaftlichen Fakultät der Universität St Lawrence in den USA. „Oft reichte ein Konto bei der falschen Bank“, um eingesperrt zu werden, sagte Eissenstat unserer Zeitung. Eine offene Diskussion über den Einfluss der Gruppe ist bis heute unmöglich; auch am Montag wollten sich einige Experten nicht zu Gülens Tod äußern.
Außenpolitisch könnte Gülens Tod für Erdogan eine Erleichterung in den Beziehungen zum Westen bringen. Die amerikanische Weigerung, Gülen an die Türkei auszuliefern, belastete das Verhältnis zwischen den Nato-Partnern. Nun muss darüber nicht mehr gestritten werden. Von den Europäern wird Erdogan jetzt möglicherweise nicht mehr mit so viel Nachdruck fordern, die Gülen-Bewegung zu verfolgen. Erst am Samstag hatte Erdogan von Bundeskanzler Olaf Scholz in Istanbul verlangt, Gülens Leute in Deutschland stärker zu bekämpfen.
Zankapfel Nahost
„Die Forderung nach Auslieferung von Gülen war lange ein Dorn in den türkisch-amerikanischen Beziehungen“, sagt Eissenstat. „Doch das Gift aus diesem Dorn ist verflogen; dass der Dorn jetzt nicht mehr da ist, macht keinen großen Unterschied.“ Auch Cicek sagte, zwischen der Türkei und den USA sei die türkische Nahost-Politik inzwischen ein größeres Hindernis.
Außenminister Hakan Fidan rief Gülens Anhänger am Montag auf, nun ihren „Weg des Verrats“ zu verlassen. Der „Kampf gegen den Terrorismus“ werde weitergehen. Der politische Einfluss der Gülen-Bewegung in der Türkei sei aber bereits gebrochen, meint Eissenstat. „Die Bewegung wird in der Türkei keine entscheidende Rolle mehr spielen. Wenn sie eine Zukunft hat, dann außerhalb der Türkei, besonders in den USA.“
Susanne Güsten, Istanbul