Ob er Viktor Orbán schon getroffen habe, wird der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj am Rande des EU-Gipfels in Brüssel gefragt: „Ja, ich habe ihn gemeinsam mit den anderen getroffen“, sagt Selenskyj. Nachsatz: „Er hat mich gegrüßt, das ist schon mal gut.“ Das leise Gelächter im Pressesaal bringt etwas Erleichterung in die angespannte Situation. Selenskyj ist unermüdlich auf Tour, um für seinen „Siegesplan“ zu werben. Es gehe darum, schon zugesagte 50 Milliarden Dollar der G-7-Staaten bzw. 35 Milliarden der EU „so schnell wie möglich zu bekommen“, sagte Selenskyj. Außerdem forderte er dringend weitere Kapazitäten zur Luftabwehr und Langstreckenwaffen. Der Gipfel bleibt bei der Zusage, jedoch muss, auch auf Drängen der USA, nun das Sanktionsregime so geändert werden, dass zur Bezahlung die Gewinne aus eingefrorenen russischen Vermögen herangezogen werden.
Für den umstrittenen Einsatz von Raketen mit langer Reichweite auf russisches Gebiet habe er separate Gespräche mit den Spitzen der USA, Frankreichs, Deutschlands und Italiens geführt, sagt Selenskyj. Davor hat er in seiner Rede vor dem EU-Gipfel auch eine Einladung für die Ukraine eingemahnt, der Nato beizutreten. Nato-Chef Mark Rutte trifft mit Selenskyj am Nachmittag zusammen und spricht vorsichtig von einer „Annäherung“. Und erstmals bestätigt der ukrainische Präsident auch Meldungen, wonach 10.000 nordkoreanische Soldaten auf Seite Russlands auf den Kriegseinsatz vorbereitet werden, einige von ihnen seien schon an der Front. Selenskyj: „Nach dem Iran das zweite Land, das Russland aktiv unterstützt, so etwas führt zum dritten Weltkrieg.“
Die Ukraine ist der erste Punkt auf der Tagesordnung, in der Schlusserklärung erneuern die EU-Länder ihr Bekenntnis zur Unterstützung der Ukraine. In neun Punkten wird detailliert an (weiteren) Sanktionen festgehalten, an der militärischen Unterstützung sowie am Bestreben, möglichst rasch eine Basis für Frieden zu schaffen.
Hauptthema ist die Migration
Dann aber geht es schon um das Hauptthema, die Migration. Vor Beginn des Treffens hat sich im italienischen Delegationsraum eine konspirative Gruppe getroffen. Die Regierungschefs und -chefinnen von Dänemark, Griechenland, Italien, Malta, den Niederlanden, Polen, der Slowakei, Tschechien, Ungarn und Zypern sind dabei, Österreich wird von Kanzler Karl Nehammer vertreten, auch Kommissionschefin Ursula von der Leyen ist in der Runde. Nehammer hat zuvor von einem „Paradigmenwechsel“ gesprochen, nicht zuletzt durch österreichisches Drängen gehe es jetzt „in die richtige Richtung“. Die EU müsse den Bürgerinnen und Bürgern Handlungsfähigkeit in der Asylfrage beweisen. Er trat auch für Rückführungen nach Syrien ein. Das Bürgerkriegsland sei „dokumentiert sicher in vielen Bereichen.“ Ausgerechnet die Erneuerung der alten EU-Rückführungsrichtlinie von 2008 war heuer im EU-Parlament gescheitert. Entgegen den Erwartungen kann sich der Gipfel am Abend dann doch auf eine gemeinsame Migrations-Erklärung einigen.
Nehammer äußerte Verständnis für die Ankündigung des polnischen Premiers Donald Tusk, der das Asylrecht an der Grenze zu Belarus zeitweise ganz aussetzen will; das Land sei durch Belarus stark unter Druck. In der Schlusserklärung heißt es, der Gipfel verlange die rasche Implementierung der neuen Gesetze, also das Migrationspaket. Angestrebt werden verstärkte Ambitionen, mit Drittländern zu brauchbaren Abkommen zu kommen; also zur geregelten und schnelleren Abwicklung der Asylverfahren und zur Umsetzung besserer Rückführmaßnahmen sowie eine Beschleunigung der Verfahren. Ein funktionierendes Schengensystem sei wichtig.
Kritik an Alleingängen
Kritik bleibt nicht aus. Der grüne Delegationsleiter Thomas Waitz meint, „der von Nehammer gepriesene ,Paradigmenwechsel‘ in der EU-Migrationspolitik ist schlichtweg ineffektiv und nicht zielführend.“ Abschiebe-Abkommen und Aufnahmelager in Drittstaaten seien nicht nur teuer und ineffektiv, sondern vor allem „eine Kurzschlussreaktion der Konservativen, angetrieben von den Rechtsextremen“. Alleingänge einzelner Mitgliedstaaten sieht Waitz als Irrweg. Die Herausforderungen wären nur durch eine solidarische Reform des Asylsystems zu lösen.
Schließlich wird auch noch über Wettbewerb und den Nahen Osten diskutiert, der Gipfel endet ungewöhnlich früh kurz nach 22 Uhr.