Heute um die Mittagszeit gab das Nobelpreiskomitee in Oslo bekannt, an wen es den diesjährigen Friedensnobelpreis verleihen wird – heuer wurden 197 Einzelpersonen und 89 Organisationen nominiert. Eine Auszeichnung in Zeiten, in denen (abseits von zahlreichen anderen bewaffneten Konflikten) in der Ukraine und Nahost zwei große Kriege toben: ein Anachronismus oder ein Preis mit einer universellen Botschaft, die wichtiger denn je ist?
Alles ist möglich
Michael Brzoska, ehemaliger Direktor des Instituts für Friedensforschung und Sicherheitspolitik (IFSH) in Hamburg, hielt vor der Vergabe im Interview mit der Kleinen Zeitung eine Auszeichnung, die einen der aktuellen Kriege betrifft, zwar für „wahrscheinlich“, doch könne es am Ende auch „ganz anders“ kommen, denn: „Erstens, weil das Nobel-Komitee immer für Überraschungen gut ist. Zweitens, weil man auch zu dem Schluss kommen könnte, dass man aktuell keine preiswürdige Person oder Organisation mit einem solchen Bezug sieht.“
Wen favorisierte Brzoska? „Das Nobelpreiskomitee könnte versuchen, vor allem für die Situation im Nahen Osten ein Signal zu senden. Dafür böte sich die Verleihung an eine Organisation oder eine Person an, die sich trotz der aktuellen Entwicklungen um Verständigung zwischen Israelis und Palästinensern bemüht.“ Brzoska könnte sich hier eine zivilgesellschaftliche Organisation vorstellen, etwa das „The Parents Circle-Families Forum“. Als Person hält er hingegen den israelischen Friedensaktivisten David Shulman für nobelpreiswürdig – dieser setzt sich bereits seit mehreren Jahren für Palästinenserinnen und Palästinenser im Westjordanland ein.
Ein anderer Ansatz zur Eindämmung von Kriegen und somit ein Beitrag zum Frieden sind Verfolgung und Bestrafung von Kriegsverbrechern. Der Friedens- und Konfliktforscher erklärt, warum der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) in Den Haag zu einem führenden Kandidaten für den Preis wurde: „Vor dem IStGH wurde Anklage gegen Putin als Hauptverantwortlichen für den russischen Angriffskrieg in der Ukraine erhoben. Auch gegen die Anführer der Hamas und Israels Premier Benjamin Netanjahu sowie Verteidigungsminister Joaw Galant beantragte man die Erhebung der Anklage.“ Der Internationale Gerichtshof (IGH) hätte ähnlich realistische Chancen, wagt Brzoska noch eine Prognose.
Geopolitik sei für das Komitee insgesamt ein „eher problematisches Feld, auf dem man sich in der Vergangenheit viel Kritik einfing“ – etwa durch die Verleihung an den einstigen US-Außenminister Henry Kissinger 1973, den vietnamesischen Politiker Le Duc Tho (er lehnte im gleichen Jahr die Auszeichnung ab) oder den äthiopischen Ministerpräsidenten Abiy Ahmed 2019. „Für das Ansehen des Preises besser waren Vergaben im Bereich von Menschenrechten, humanitärer Hilfe und Friedensschlüssen. Will man ein Statement zu den aktuellen Konflikten machen, dürfte man dies über die menschliche Seite tun.“
Posthume Vergabe?
Zwei durchaus hoch gehandelte Kandidaten hält Brzoska für völlig bis ziemlich unwahrscheinlich: Dass der in einem russischen Straflager zu Tode gekommene Putin-Kritiker Alexei Nawalny den Preis bekommt, sei „praktisch ausgeschlossen“. Es sei mit dem einstigen UNO-Generalsekretär Dag Hammerskjöld erst einmal eine Person posthum ausgezeichnet worden, dieser wurde zudem erst nach der entscheidenden Komiteesitzung ermordet. „Selbst bei Mahatma Gandhi machte man keine Ausnahme, obwohl das nach seinem Tod vielfach gefordert wurde.“
Und der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj, der sein Land seit Februar 2022 gegen die russische Aggression verteidigt? „Angesichts des laufenden Krieges wäre das problematisch – solange Selenskyj so stark auf Sieg setzt und nicht zu Kompromissen bereit scheint“, ortet Brzoska hier Unvereinbarkeiten.
Frieden findet auf dieser Welt gerade eher als Wunschdenken statt – und es wäre nicht das erste Mal, dass der Friedensnobelpreis nicht vergeben wird: Seit der ersten Verleihung 1901 gab es insgesamt 19 Jahre ohne Preisträger – darunter 13 während der Weltkriege und zuletzt 1972.