Man bemühte sich noch kurz um oberflächliche Freundlichkeit. Der ungarische Premier Viktor Orbán und Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen gaben sich im EU-Parlament in Straßburg die Hand, dann eröffnete Präsidentin Roberta Metsola die Sitzung und es war wie der Glockenschlag zu einem wilden Schaukampf, der sich über Stunden ziehen sollte. Orbán tat zunächst das, wofür er eigentlich gekommen war – spät, aber doch, die Prioritäten der ungarischen Ratspräsidentschaft vorzustellen. Er ist für die vollständige Aufnahme Bulgariens und Rumäniens in den Schengen-Raum noch heuer, für Asyl-Aufnahmezentren außerhalb der EU-Grenzen und die rasche EU-Erweiterung um die Westbalkanländer, ausdrücklich erwähnt er dabei Serbien. Erste Unruhe im Saal kommt auf, als er Migranten für Antisemitismus, Gewalt gegen Frauen und wachsende Homophobie verantwortlich macht – die Abgeordneten der Grünen sind demonstrativ in bunten LGBTQ-Farben gekleidet. Als Orbán schließt, stimmt ein Teil des Plenums auf der linken Seite das italienische anti-faschistische Lied „Bella Ciao“ an. Präsidentin Metsola erinnert daran, dass man nicht beim Song Contest sei.
Und dann ist Ursula von der Leyen an der Reihe. Kurz erinnert sie die Ungarn an die EU-Hilfe nach der Hochwasserkatastrophe vor drei Wochen und an den zugrunde liegenden Solidaritätsgedanken. Von einem Satz zum nächsten schaltet die Präsidentin in einen für sie außergewöhnlichen Kampfmodus um, die Aufmerksamkeit im Saal wächst spürbar. Sie spricht von der Ukraine, vom bevorstehenden dritten Kriegswinter, der nach den permanenten Angriffen Russlands der härteste werden könnte. „Es gibt noch immer einige, die das nicht dem Aggressor anlasten, sondern den Angegriffenen. Sie sehen die Ursache nicht in Putins Machtgier, sondern in der Sehnsucht der Ukraine nach Freiheit.“ Und konkret an Orbán gewandt: „Würden Sie den Ungarinnen und Ungarn die sowjetische Invasion von 1956 vorwerfen?“
Dann folgt Schlag auf Schlag. Europa müsse den Binnenmarkt und damit die Wettbewerbsfähigkeit stärken, Barrieren abbauen, entbürokratisieren. Aber: „Eine Regierung in unserer Union steuert genau in die Gegenrichtung. Wie kann sie europäische Investitionen anziehen, wenn sie gleichzeitig europäische Unternehmen diskriminiert und stärker besteuert? Wie sollen Unternehmen Vertrauen haben, wenn eine Regierung sie willkürlich kontrolliert, ihre Genehmigungen blockiert und wenn öffentliche Aufträge immer an eine kleine Gruppe von Begünstigten gehen? All das zu einer Zeit, während mitteleuropäische Nachbarn Ungarn längst bei der Wirtschaftsleistung pro Kopf überholt haben.“ Ein Volltreffer, Orbán macht Notizen. Aber es geht weiter. Die Kommissionschefin bleibt bei ihrer harten Linie. Sie erinnert an den Beschluss der EU-27 kurz nach Kriegsbeginn, sich von fossilen Brennstoffen aus Russland zu verabschieden. Das sei in großem Maße gelungen, aber nicht jeder habe sich daran gehalten: „Ein Mitgliedsstaat hat nur nach Wegen gesucht, weiter fossile Brennstoffe aus Russland zu kaufen.“
Russen ohne Kontrolle
Und schließlich spricht sie Orbán zum Thema Migration direkt an: „Sie sagten, dass Ungarn seine Grenzen schützt und Kriminelle eingesperrt werden – wie passt das, dass Ungarn verurteilte Menschenhändler und Schleuser auf freien Fuß gesetzt hat? Damit schützen Sie niemanden, Sie werfen die Probleme nur Ihren Nachbarn über den Zaun.“ Dass Ungarn Russen ohne zusätzliche Kontrollen ins Land lasse, werde zum Sicherheitsrisiko für die ganze Union; dass chinesische Polizisten in Ungarn tätig werden können, diene nicht der Souveränität Europas.
Weber legt nach
Die Abrechnung mit Viktor Orbán soll noch über Stunden weitergehen. Manfred Weber (EVP) setzt nahtlos fort: Orbán sei nicht die Zukunft, sein Besuch bei Putin und Xi keine Friedensmission, sondern eine „Propagandashow für Autokraten“ gewesen, es habe sich vielmehr um eine „Kriegsverlängerungsmission“ gehandelt. Ungarn sei auf dem Abstellgleis, die Korruption im Land ein „Killer der Zukunft“, immer mehr Ungarn würden auswandern. Iratxe García Pérez (S&D) sagt Orbán auf den Kopf zu, er schiebe permanent der EU die Schuld an der eigenen Inkompetenz zu. „Der echte Patriot bereichert sich nicht auf Kosten seines Heimatlandes.“ Valerie Hayer (Renew) fordert erneut den Entzug des Stimmrechts im Rat, spricht von Korruption und davon, dass Hunderttausende Ungarn das Land bereits „Richtung Westen“ verlassen hätten. Terry Reintke (Grüne) wendet sich letzten Endes auch direkt an Orbán: „Sie sind hier nicht willkommen.“
Orban wirkt irritiert
Der Angesprochene wirkt irritiert. Er spricht von „einer Art Intifada“, „Politpropaganda“, „linken Lügen“. Der Premier geht auf die Wortmeldungen ein, doch bleibt es bei oberflächlicher Abwehr. Von der Leyen würde es nicht zustehen, Differenzen derart im Plenarsaal auszutragen. Orbán: „Ich lehne voll und ganz ab, was Sie gesagt haben, die Kommission ist Hüterin der Verträge und hat eine neutrale Rolle einzunehmen.“ Dann holt er zum Rundumschlag aus, greift Manfred Weber persönlich an („Sie wollten 2018 Kommissionspräsident werden, aber nicht mit der Stimme Ungarns, und jetzt tut es mir leid, dass Sie Ungarnhasser geworden sind“) und spricht von einer „Diskussion ohne Fakten“.
Viele weitere Redner kommen noch zu Wort, Applaus gibt es wechselweise von der rechten oder von der linken Seite im Saal. FPÖ-Delegationsleiter Harald Vilimsky entschuldigt sich bei Orbán für die „Gemeinheiten und Lügen der Linken, die verzweifelt sind, weil ihnen die Wähler davonlaufen“. Vilimsky spricht auch noch eine Zeitlang weiter, als ihm wegen Überschreitung der Redezeit schon längst das Mikrofon abgestellt ist. Am Ende zieht ein italienischer Lega-Abgeordneter Resümee über den Tag: „Das war ein Hinterhalt.“