In Israel hatte man eher nicht damit gerechnet, dass die iranischen Mullahs ihrem liebsten Ziehkind Hisbollah, das im Libanon gerade demontiert wird, energisch zur Hilfe kommen würden. Aber Dienstag Nachmittag wandte sich Armeesprecher Daniel Hagari plötzlich an die Bevölkerung: Die amerikanischen Verbündeten hätten „Vorbereitungen” zu einem Raketenangriff des Iran auf Israel „in nächster Zeit” wahrgenommen. Um 19.30 Uhr Ortszeit heulten dann fast landesweit die Sirenen. Von Aschkelon im Süden über Arad am Toten Meer und den Großraum von Tel Aviv und Jerusalem bis zum Westjordanland kauerten Millionen von Menschen in den Schutzräumen, während die Wände zitterten, die Abwehrbatterien dröhnten und der Himmel sich im Schein der herabsausenden Raketenteile orange färbte.

Das Land hat in vielen Kriegen schon viel erlebt, aber so etwas noch nie. Schon am 13. April war ein Tabu gebrochen worden, als der Iran erstmals in der Geschichte Israel nicht über seine Stellvertreter, sondern direkt angegriffen hatte. Damals hatte Teheran, neben Marschflugkörpern und Drohnen, „nur” rund 100 ballistische Raketen fliegen lassen und, zumindest theoretisch, ein militärisches Ziel anvisiert. Diesmal wurden, um Israels Abwehrsystem zu überlasten, fast gleichzeitig 180 ballistische Raketen auf verschiedene Bevölkerungszentren abgeschossen. Jede solche Rakete könnte, wenn sie ein Wohngebäude trifft, 50 Menschen und mehr töten. Die iranischen Salven hatten also das Potenzial für den Tod von 10.000 Menschen. “Jetzt ist endgültig klar, dass das wahnsinnige Fundamentalisten sind”, rief die Moderatorin Ayala Chasson live im Fernsehstudio, “und jetzt stellt euch vor, dass sie schon die Atombombe hätten.”

Hyperschall-Abwehrrakete

Wieder hat sich Israels hochmoderner, weltweit wohl einzigartiger Luftschutzschirm großartig bewährt. Nicht, wie manchmal fälschlich gesagt, das für niedrig fliegende Kurzstreckenraketen zuständige System „Iron Dome”, sondern die Hyperschall-Abwehrrakete „Arrow-3” war diesmal der Star des Abends – sie kann aus Tausenden Kilometern abgefeuerte ballistische Raketen schon außerhalb der Atmosphäre zerstören. In Israel entstand einiger Sachschaden, doch niemand wurde getötet oder ernsthaft verletzt. Das einzige Todesopfer war ein Mann, der in der palästinensischen Stadt Jericho von einem Raketenbruchstück erschlagen wurde.

„Großer Fehler“

„Heute Abend hat der Iran einen großen Fehler begangen, und er wird dafür bezahlen”, sagte Israels Premier Benjamin Netanjahu. „Das Regime in Teheran versteht nicht, dass wir entschlossen sind, uns zu verteidigen und unsere Feinde einen Preis bezahlen zu lassen.” Wieder einmal stellt sich in Israel die Frage: Soll die Reaktion der furchtbaren Absicht oder dem glimpflichen Ergebnis des iranischen Angriffs angemessen sein? Es gilt aber als sicher, dass die Vergeltung den Iranern sehr weh tun wird. Das Ziel könnten etwa Ölraffinerien sein, mit schweren wirtschaftlichen Folgen für das ohnehin unter Sanktionen stöhnende Regime. Erst vor wenigen Tagen hat Israel in 1800 Kilometern Entfernung den von den schiitischen Huthis kontrollierten Hafen Hodeideh im Jemen in Brand geschossen. Die vom Iran ausgerüsteten Huthis schießen seit Monaten immer wieder einzelne ballistische Raketen auf Israel. Mit dem auch als Signal an den Iran gewerteten Angriff hat die israelische Luftwaffe demonstriert, dass sie die Logistik für Operationen auch über sehr große Distanzen beherrscht.

Wie auch immer Israels Kabinett entscheidet, nach der jüngsten Raketennacht ist im Kampf gegen den Iran und dessen Proxys der nationale Konsens breiter und fester denn je. Zuletzt waren schon die Schläge gegen die Hisbollah im Libanon, mit den Explosionen von Tausenden Pagern und der Tötung des Hisbollah-Chefs Hassan Nasrallah als vorläufige Höhepunkte, weithin bejubelt worden. Netanjahu musste sich sogar von der Linksopposition die Frage gefallen lassen, warum er mit der Offensive gegen die Hisbollah so lange gezögert habe. Dass die rund 60.000 Israelis, die durch das Dauerfeuer auf Nordisrael vertrieben wurden, nur heimkehren können, wenn die libanesische Terrormiliz militärisch entscheidend geschwächt wird, gilt als selbstverständlich. Freilich, nach dem direkten Eingreifen des Iran und wegen der damit entstandenen Gefahr eines regionalen Kriegs sind die anderen Fronten vorläufig irgendwie zur Nebensache geworden.