In der einen Hand halte ich die Sonnenblumen und die Einkaufstaschen, in der anderen den Hausschlüssel. Das Telefon klingelt. Drei verpasste Anrufe, zig Nachrichten von Familie und Freunden, sehe ich auf dem Bildschirm. Ich gehe dran. Es ist meine Schwester aus Deutschland. „Alles in Ordnung?“, fragt sie. „Eigentlich schon…“, sage ich zögerlich und wundere mich ein wenig.

Etwas mehr als eine Stunde lang war ich einkaufen, ohne auf mein Telefon zu schauen. Etwas mehr als eine Stunde Normalität. Eden, meine kleine Tochter, wollte Stoff aussuchen, um sich etwas zu nähen. Wir laufen von Geschäft zu Geschäft, erzählen, lachen. Auf dem Rückweg kaufen wir ein Eis. Mein Herz hüpft vor Freude über die Momente der Unbeschwertheit. Sie sind selten geworden, hier in Israel – wie auch bei den Menschen in Gaza oder dem Libanon.

Einige Stunden vorher musste ich Eden aus der Schule abholen. Sie ist zehn und fährt normalerweise zusammen mit ihrer Freundin auf dem Fahrrad nach Hause. Doch um kurz vor zwei stehe ich vor dem Schultor. Die Hisbollah aus dem Libanon hat Raketen auf das Zentrum geschossen. Natürlich lasse ich sie nicht allein fahren.

„Was ist los, Mami?“

„Was ist los, Mami?“, ruft sie mir zu, und ihr weiches Kindergesicht wird ganz ernst. Die Geste erkennt sie sofort. Es ist eine Mischung zwischen Schulterzucken und Kopfschütteln. Wir machen sie alle. Unbewusst. Meine Kinder sind längst geeicht. Seit einem Jahr werden sie nachts von Sirenen geweckt, hasten in Schutzräume, müssen sich – in Ermangelung eines persönlichen Schutzraumes – auf die Treppe in unserem Haus kauern, den Kopf auf den Knien und die Hände schützend darüber gefaltet, während der Alarm in unsere Ohren schreit.  

Galgenhumor

Nur etwas mehr als eine Stunde – und schon überschlagen sich die Nachrichten. Es ist hierzulande Teil unseres Alltags geworden. Der Iran greift uns an. Heute. Ich muss fast lachen, wie ich so dastehe, mit meinen Sonnenblumen in der Hand. „Kannst du die ins Wasser stellen?“, rufe ich meiner großen Tochter zu. „Ich muss arbeiten, der Iran will uns beschießen.“ Der Galgenhumor gehört in Israel zur Überlebensstrategie. Sonst kommen wir nicht mehr durch den Alltag, drehen durch. „Ah“, sagt Dana und zieht die Augenbrauen hoch.

Packen für den Bunker

Ich klappe mein Laptop auf, während meine Kinder die Taschen für den öffentlichen Bunker packen. Wasser, ein paar Nüsse und Äpfel, Aufladekabel. Der Schutzraum ist knapp zwei Minuten zu Fuß entfernt. Bei Raketenalarm haben wir eineinhalb Minuten Zeit, um ihn zu erreichen. Wenn wir rennen. Bei den Raketen der Hamas haben wir immer auf der Treppe gesessen, es ist der sicherste Raum im Haus. Das Waffenarsenal des Iran aber will ich ganz sicher nicht hier aussitzen.

Während ich schreibe, kommt Dana ins Zimmer. „Anweisung für den gesamten Gusch Dan, sich in der Nähe eines Schutzraumes aufzuhalten“, sagt sie zu mir, das Handy in der Hand. „Man darf nicht mehr rausgehen.“ Sie ist blass. Gusch Dan sind auch wir hier in Tel Aviv.

Wir schaffen es nicht

Und dann geht es ganz schnell. Zwei, drei Minuten später schrillt die erste Warnsirene los. „In den Sicherheitsraum begeben“, heißt es knapp von der App des Heimatfrontkommandos der Armee. Wenn die Warnung losgeht, haben wir auch jetzt angeblich nur eineinhalb Minuten Zeit, um uns in Sicherheit zu bringen. Wir schaffen es nicht in den Bunker. Also wieder auf die Treppe. Wie unzählige Male zuvor. Bei Angriffen der Hamas, bei den Angriffen der Hisbollah aus dem Libanon. Und jetzt auch. Eineinhalb Minuten sind einfach zu kurz, um sich in Sicherheit zu bringen.

Todesangst

„Können wir nicht doch los?“ Über uns wummert es. Wir schauen uns an und verstummen. Wir sitzen auf der Treppe und können nirgendwo hin. Das Haus wackelt. „Abgefangen“, sagen wir zueinander. Wir kennen die Töne längst. Dann die nächste Sirene. Sie schrillt durch Mark und Bein. Meine kleine Tochter zittert. Ich nehme sie in den Arm. Sie weint. Ein Jahr lang Ungewissheit, Sorge, Todesangst machen etwas mit einem. Besonders mit den Kindern. Seit fast zwölf langen Monaten sorgen wir uns permanent vor der nächsten Attacke, woher sie auch kommen mag, und versuchen doch, unser Leben so normal wie möglich zu leben. Gehen an den Strand, besuchen Freunde, machen eine Radtour.

Doch im Hinterkopf ist die Angst Dauergast. Ich bewege mich durch die Stadt und halte gleichzeitig Ausschau nach dem nächsten Schutzraum. Zähle Sekunden, die ich brauchen würde, um es von irgendeinem Ort in irgendeinen Bunker zu schaffen.

Noch eine Sirene schrillt

Wir sitzen noch immer stumm auf der Treppe. Binnen kürzester Zeit schickt der Iran mehr als 150 Geschosse auf das Land. Die Armee sendet eine neue Nachricht: Alle müssen in ihren geschützten Räumen bleiben, bis es eine weitere Ansage gibt. Morgen ist Rosh Haschana, das jüdische Neujahr. Eigentlich wollte ich nach dem grauenvollsten Jahr in der Geschichte des Landes etwas Zuversichtliches schreiben. Ich sitze auf der Treppe und merke, wie mir Tränen über die Wangen rollen. Noch eine Sirene. Und mit jedem Angriff schrumpft meine Hoffnung, dass es tatsächlich das wird, was sich hier alle so sehnlich wünschen: Schana Towa – ein gutes Jahr.