Selten war ein Vorwahlkampf so ereignisreich: Krieg in Gaza, der Westbank und Libanon, Drohungen aus dem Iran, beunruhigende Lage in der Ukraine, eine Sturmflut, die einen halben Bundesstaat wegreißt und — zur Stunde — 160 Tote produziert hat. Und wirklich glücklich ist das Land nicht mit beiden Kandidaten.
Am Dienstagabend traten nun — traditionell — die potenziellen Vizekandidaten gegeneinander an; Tim Walz aus Minnesota für die Demokraten und JD Vance aus Ohio für die Republikaner. Zwei weiße Männer aus dem Mittelwesten, solide verheiratet und mit Kindern, wesentlich traditioneller als die schwarz-indische, kalifornische Kamala Harris und der exzentrische New Yorker Donald Trump mit den vielen Frauen. Der Republikaner trägt eine rote Krawatte, der Demokrat eine blaue, daran kann man sie unterscheiden. Und sie reden an einem Stehpult, Vance hat ein rotes. Walz ein blaues.
Die Moderatorin mahnt dazu, die an die Redezeit zu halten, aber beide sind ohnehin diszipliniert. Sie brüllen nicht und spotten nicht, wie Trump es gerne tut. Aber sie reden meist aneinander vorbei und versuchen, die Redezeit von zwei Minuten maximal auszuknautschen. Und Walz nimmt einige Gelegenheiten nicht wahr, den Konkurrenten nicht anzugreifen.
Die Debatte galoppiert durch die Themen
In der DramShop-Bar, im tiefsten Brooklyn, treffen sich die linken Demokraten von dem politischen Club Drinking Liberally. Überall sind große Bildschirme und große Lautsprecher; die Baristas müssen über den Sound hinwegbrüllen. Die Debatte galoppiert durch die großen Themen: Immigration, Inflation, Drogen wie Fentanyl, an denen viele sterben, hohe Medikamentenpreise, explodierende Mieten, Abtreibung und in-Vitro-Befruchtung.
Die Kriege im Mittleren Osten, die derzeit die Schlagzeilen bestimmen, werden gleich am Anfang abgehakt, denn in Amerika geht es bei Wahlen stets um Innenpolitik. Unter Trump habe es keine neuen Kriege gegeben, sagt Vance. Schon, aber der Jemen wurde bombardiert, und ohnehin stehen beide Parteien gleichermaßen hinter amerikanischen Waffeneinsätzen. Dann Immigration: Wird Trump das Militär einsetzen, um die 20 bis 25 illegalen Immigranten zu deportieren, die es angeblich gibt, wird Vance gefragt. Der beantwortet die Frage nur ausweichend: Man werde erst einmal mit denen anfangen, die kriminell seien, meint er, ohne zu sagen, wie. Und was ist mit Immigranten, die inzwischen amerikanische Kinder haben? Das sei schwierig, sagt Vance, der prompt in der Kneipe ausgebuht wird.
Podcast „WTF Amerika“
Problem Familie und Kinderbetreuung
Dann geht es um Familien und Kinderbetreuung, ein großes Problem in einem Land, wo sich viele Familien nur mit zwei Jobs über Wasser halten können. Vance hat sich zuvor unbeliebt gemacht, als er sagte, die Großeltern könnten doch auf die Kinder aufpassen. Nun schlägt er Steuererleichterungen für Familien vor. Was die professionelle Kinderbetreuung angehe, gebe es in den USA nicht genug Arbeitskräfte. Natürlich arbeiten ein Großteil der zuvor erwähnten Illegalen als Nannies, aber Walz greift diesen Ball nicht auf.
Stattdessen erzählt er über ein zwölfjähriges Mädchen, das nicht abtreiben durfte, nachdem ihr Vater sie vergewaltigt hatte, und eine junge Frau, die starb, weil Ärzte sich nicht trauten, ihre Fehlgeburt zu behandeln. Das sei alles eine Folge der neuen Abtreibungsgesetze. Vance räumt nun überraschend ein, dass die Republikaner ihre Wähler in der Abtreibungspolitik nicht überzeugen hätten können. Da müsse die Partei etwas Besseres vorlegen.
Steigende Mieten
Nun aber wechselt Vance das Thema und greift Walz an; die Demokraten seien schuld an den steigenden Mieten, da sie unbegrenzt Immigranten einließen und Millionen von denen in den knappen Wohnungen einquartierten. Als Nächstes kommt die Rede auf Schulschießereien. Warum passiert das so oft in Amerika? “Manchmal liegt das einfach an den Gewehren”, sagt Walz. Im Saal der Kneipe kommt zum ersten Mal lauter Beifall auf. Waffenrechte sind ein großer Streitpunkt zwischen Demokraten und Republikanern.
Vance macht Harris für alles verantwortlich, was schiefläuft. Es ist, als sei Joe Biden, der ja immerhin noch Präsident ist, völlig in Vergessenheit geraten. Das ist die generelle Strategie der Republikaner. Ist es wirklich eine gute Idee, Harris als Macherin darzustellen? Man fragt sich allerdings, ob Biden sich noch daran erinnert, dass er Präsident ist. Nach den furchtbaren Schäden, die der Hurrikan Helene in North Carolina verursacht hat, trat er nur kurz im Weißen Haus auf und ward dann nicht mehr gesehen. Walz hingegen kündigte Hilfe an. Vance wiederum bestreitet, dass die Hurrikane an der globalen Erwärmung liegen.
„Ihr zahlt Steuer und Trump nicht?“
Nicht nur ignoriert Vance Biden, Walz tut beinahe so, als kandidiere er selber, und nicht Harris. Er gibt sich volksnah und betont seine soziale Ader, die er als Gouverneur von Minnesota an den Tag legt. Schulspeisungen! Gesundheitsfürsorge! Er sei ein „Union guy“, ein Gewerkschafter, der sich um Arbeiter kümmere. Dann wendet er sich direkt an die Zuschauer: Wie sei es fair, dass „ihr Steuern zahlt und Donald Trump nicht?“ Er trägt sogar Bibelverse vor, die Fremden gut zu behandeln. Vance hingegen fährt die rechtspopulistische Parteilinie: Die Migranten, aber auch die Chinesen nähmen den Amerikanern alles weg, das werde sich unter einer Trump-Präsidentschaft ändern. Dabei guckte er ein bisschen böse. Die Verlagerung der Fertigung nach China ist tatsächlich ein Problem. Andererseits, wenn Amerikaner nicht billige Produkte aus Asien kaufen könnten, wäre die Preissteigerung noch dramatischer. Und die beklagen die Republikaner ja ebenfalls. Vance bekommt in der Brooklyner Kneipe keinen Beifall, aber die Zahl der Republikaner liegt vermutlich nahe Null.
Das Wichtigste an Vance ist, er wirkt zwar normal, vor allem verglichen mit Donald Trump, dessen Reden und Grimassen immer erratischer werden. Aber nicht besonders sympathisch. Vance ist eher ein Technokrat, der sagt, was die Wähler hören wollen, der dabei aber nur an die eigene Karriere denkt, obwohl er dauernd über seine schwere Kindheit und seine drogensüchtige Mutter redet. Aber das wirkt nicht von Herzen, sondern wie ein Gimmick im Wahlkampf. Trump lässt sich inzwischen kaum noch mit Vance blicken, lieber zieht er mit Robert Kennedy Jr. und der libertären Senatorin Tulsi Gabbard durchs Land.
Walz, der freundliche Opa
Walz wiederum wirkt wie ein freundlicher Opa, aber er ist viel gewiefter, als er sich gibt. Den Sprung in die Kandidatur hat er monatelang akribisch vorbereitet, wie die New York Times vor ein paar Wochen enthüllte. Früher wurden die Vizepräsidenten und ihre Debatte kaum ernst genommen. Das änderte sich mit der letzten Legislaturperiode, als Trumps Vize Mike Pence plötzlich der Einzige war, der zwischen der Stimmenauszählung und einem wütenden Mob stand, der ihn hängen wollte. Harris hingegen wurde eher überraschend (und ohne echte Wahl) vom Vizepräsidentenamt auf den Weg ins Weiße Haus befördert.
Walz bekommt in der Kneipe noch einmal heftigen Beifall, als er den Aufstand des 6. Januar anspricht und beschwört, wie wichtig ein demokratischer Übergang sei. Er zitiert Präsident Franklin Roosevelt: Alles, was wir fürchten müssten, sei die Furcht. Zuletzt zeigt er sich dankbar über die breite Koalition, die hinter Harris stünde. Vance erinnert die Wähler daran, dass Amerika ein reiches Land sei, es müsse aber jeder partizipieren. „Wir treffen im Wahlkampf dauernd Leute, die nicht genug Geld für Essen haben.“ Das müsse sich ändern.
„In kurzer Zeit ist das vergessen“
Ändert die Debatte etwas? Justin Krebs, der informelle Chef von Drinking Liberally glaubt, eher nicht. „In kurzer Zeit ist das vergessen.“ Maria Brown, eine Aktivistin aus Brooklyn findet, Walz habe gewonnen. „Vance hat 90 Prozent Bullshit geredet.“ Unter liberalen New Yorkern sind 90 Prozent — statt 100 — noch recht großzügig. In einer CBS-Umfrage nach der Sendung finden 42 Prozent der Zuschauer, Vance habe gewonnen, Walz bekam 41. Punkte. Noch erstaunlicher: 82 Prozent fanden den moderaten Ton gut. Ob es noch eine Debatte zwischen Trump und Harris gibt, ist unklar, aber moderat wäre die nicht. Als ich aus nach Hause komme, finde ich zwei Dutzend E-Mails von Trump vor, wonach Walz falsch liegt