Nach einer chaotischen ersten Sitzung des Landtags des deutschen Bundeslandes Thüringen soll der Verfassungsgerichtshof entscheiden, wie es weitergeht. Das Parlament in Erfurt rutscht damit vorübergehend in eine Krise – ohne einen Landtagspräsidenten ist es fast vier Wochen nach der Landtagswahl nicht voll arbeitsfähig. Gesetzlich vorgeschrieben ist, dass sich der Landtag innerhalb von 30 Tagen nach der Landtagswahl konstituiert.
Was in Erfurt passierte, die Unterbrechung einer Landtagssitzung und die Anrufung des Verfassungsgerichts, gilt unter Staatsrechtlern als „ungewöhnlicher Vorgang“.
Die Landtagssitzung am Donnerstag endete nach etlichen Unterbrechungen, Zwischenrufen und verbalen Auseinandersetzungen und mit einem Eklat und einer heftigen Konfrontation zwischen einer starken AfD des rechtsextremen Björn Höcke und den anderen Fraktionen CDU, BSW, Linke und SPD. Es gelang dem Parlament nicht einmal, seine Beschlussfähigkeit festzustellen. Die Abgeordneten der vier Fraktionen lasten das dem Alterspräsidenten von der AfD, Jürgen Treutler, an. Er ließ in der turbulenten Sitzung weder Wortmeldungen, Anträge noch eine Debatte über die von den Fraktionen geforderte Änderung der Geschäftsordnung zu.
Eilverfahren von CDU eingereicht
Die Abgeordneten von CDU, BSW, Linke und SPD sehen damit ihre Rechte unzulässig beschnitten und das Mehrheits- und Demokratieprinzip angegriffen. Die AfD wiederum wirft den anderen Fraktionen vor, sich nicht an parlamentarische Gepflogenheiten zu halten. Höcke warf ihnen Taschenspielertricks vor.
Den Verfassungsrichtern wird von der CDU ein Eilantrag vorgelegt, über den sie entscheiden sollen. Nach Angaben aus der CDU-Fraktion werden sich an dem Antrag auch die drei anderen Fraktionen beteiligen. Im Grunde geht es um die Regeln, an die sich Alterspräsident Treutler beim zweiten Anlauf halten muss – dazu gehört beispielsweise, dass er sich an die Tagesordnung hält und einen Änderungsantrag von CDU und BSW nicht ignoriert. Mit dem Antrag wollen sie erreichen, dass der Personalvorschlag für das Landtagspräsidentenamt von allen Fraktionen kommen kann und nicht nur von der AfD als stärkste Fraktion.
Wie die Verfassungsrichter entscheiden, ist offen. Auch der AfD-Alterspräsident kann Stellung beziehen. Weil es sich um ein Eilverfahren handelt, werden die Richter beraten, aber ohne mündliche Verhandlung entscheiden, sagte ein Sprecher auf Anfrage. Der Zeitdruck liege in der Natur der Sache, aber der Landtag könne das Verfassungsgericht nicht zeitlich binden.
CDU und BSW: Alle Fraktionen sollen Kandidaten vorschlagen können
Nach Ansicht des Juristen Maximilian Steinbeis hat die AfD als stärkste Fraktion nur das Recht, den Kandidaten für das Amt des Landtagspräsidenten vorzuschlagen, aber nicht das Recht, dass dieser Kandidat - oder diese Kandidatin - dann auch gewählt wird. „Das ist die freie Entscheidung der Abgeordneten des neuen Thüringer Landtags, wen sie zu ihrem Landtagspräsidenten wählen wollen. Und mehr gesteht die Verfassung der AfD als stärkste Fraktion überhaupt nicht zu“, sagte Steinbeis am Donnerstagabend im ZDF-„heute journal“. Steinbeis ist Gründer des Verfassungsblogs. Das „Thüringen-Projekt“ des Verfassungsblogs beschäftigte sich mit der Frage, was passieren würde, wenn „autoritär-populistische Parteien staatliche Machtmittel in die Hand bekommen“.
Ausgangspunkt ist ein Streit über die Wahl des Landtagspräsidenten. Die AfD hat als stärkste Fraktion mit ihren 32 von 88 Abgeordneten das Vorschlagsrecht. Doch einen Anspruch, dass ihre Kandidatin auch gewählt wird, hat sie nicht. Da klar war, dass mit Treutler ein AfD-Abgeordneter als Alterspräsident die Sitzung leitet, gab es im Vorfeld Befürchtungen, der 73-Jährige könnte stur ausschließlich AfD-Kandidaten zur Wahl aufrufen – die dann der Reihe nach bei der Wahl durchfallen würden. CDU und BSW brachten daher einen Antrag ein, der Verfassungsrecht in die Geschäftsordnung übertragen soll. Damit sollen von Anfang an alle Fraktionen Kandidaten vorschlagen können.
CDU-Abgeordneter: „Was Sie hier betreiben, ist Machtergreifung.“
Der Stoff war juristisch-trocken, doch die Emotionen kochten trotzdem hoch: Es gab Zwischenrufe, Applaus und teils verbales Durcheinander. Treutler zog seine Rede durch, die von vielen Abgeordneten als nicht unparteiisch bewertet wurde. Die CDU warf dem AfD-Mann auch vor, seine Kompetenzen als Alterspräsident weit überschritten zu haben. CDU-Chef Mario Voigt sagte: „Das war ein Angriff auf parlamentarische Rechte, auf die Verfassung und auf jeden einzelnen Abgeordneten“. Treutler versuchte, Abgeordneten das Wort zu entziehen, ignorierte Anträge und ging nicht auf mehrfach gestellte Forderungen ein, die Beschlussfähigkeit des Landtags festzustellen. Stattdessen sagte er mehrfach, dass er die Rechtsauffassung der AfD-Fraktion teile und demnach zu handeln gedenke. Der CDU-Abgeordnete Andreas Bühl sagte: „Was Sie hier betreiben, ist Machtergreifung.“
Eine Entscheidung der Verfassungsrichter wird frühestens im Laufe des Freitags erwartet. Möglicherweise wird den Streitparteien noch eine Frist für eine Stellungnahme eingeräumt. Die Sitzung des Landtags wurde jedenfalls bis Samstag, 09.30 Uhr, unterbrochen. Ob es bis dahin tatsächlich eine Entscheidung gibt, gilt als ungewiss.