Als die Hisbollah am Mittwoch vom Libanon aus eine Rakete auf das Hauptquartier des israelischen Geheimdienstes Mossad bei Tel Aviv abfeuerte, wusste die Führung der Miliz, dass der Angriff scheitern würde. Tatsächlich wurde die Rakete abgefangen, ohne die Mossad-Zentrale zu erreichen. Doch für die Hisbollah und ihre Anhänger war der Beschuss trotzdem wichtig: Er zeigte, dass die pro-iranische Gruppe selbst nach einer Woche israelischer Luftangriffe im Libanon noch in der Lage ist, Israel zu bedrohen.

„Schlimmste Woche“ für Hisbollah

Die israelischen Bombardements seit vorigem Donnerstag haben hunderte Menschen getötet und hunderttausende in die Flucht getrieben und israelischen Medienberichten zufolge rund die Hälfte der Hisbollah-Raketen und Drohnen außer Gefecht gesetzt. Kurz zuvor hatte die Sprengung von Funkgeräten der Hisbollah durch den Mossad wichtige Kommunikationskanäle der pro-iranischen Miliz zerstört. Gezielte Luftschläge töteten nach Angaben der israelischen Armee so viele hochrangige Hisbollah-Kommandeure, dass von 18 Mitgliedern der militärischen Hisbollah-Führung unter Anführer Hassan Nasrallah nur noch zwei übrig sind.

Israels Luftwaffe setzte die Angriffe am Mittwoch fort und zielte nach Armee-Angaben unter anderem auf Hisbollah-Befehlszentren. Verteidigungsminister Joaw Galant sprach von der „schlimmsten Woche für die Hisbollah seit ihrer Gründung“ vor rund 40 Jahren. Kommandostrukturen, Kämpfer und Waffen der Hisbollah seien schwer getroffen worden.

Hunderte Raketen auf Israel

Galants Einschätzung ist keine bloße Propaganda. Vieles an der militärischen Kapazität, die sich die Hisbollah seit dem letzten Krieg gegen Israel im Jahr 2006 mit der Hilfe des Iran aufgebaut hatte, ist in den vergangenen Tagen in Schutt und Asche gelegt worden. Eine moderne Flugabwehr hat die Hisbollah ohnehin nicht, sodass israelische Kampfjets den Luftraum kontrollieren.

Doch besiegt ist die Hisbollah noch lange nicht. Schon vor der jüngsten Angriffswelle hatte Israel nach eigenen Angaben viele wichtige Kommandeure der Hisbollah getötet, ohne die Miliz stoppen zu können. So teilte die israelische Armee im April mit, sie habe jeden zweiten Hisbollah-Offizier im Süden Libanons getötet. Das hinderte die Hisbollah nicht daran, in den Monaten darauf zeitweise 200 Raketen pro Tag auf Ziele in Israel abzuschießen.

„Riesiges Waffenarsenal“

Nach den jüngsten Luftschlägen gegen hohe Hisbollah-Funktionäre seien die frei gewordenen Posten sofort neu besetzt worden, meldete die Nachrichtenagentur Reuters unter Berufung auf Gewährsleute mit Einblick in die internen Entscheidungen der Hisbollah. Die Befehlskette funktioniere noch, auch dank Festnetz-Telefonleitungen und Tunnelsystemen. Trotz der Störungen ihres Kommunikationssystems schoss die Hisbollah am vergangenen Samstag in einem koordinierten Angriff rund hundert Raketen auf einmal in Richtung Israel.

Selbst wenn Israels Schätzung zutrifft, dass die Hisbollah seit voriger Woche etwa 50 Prozent ihrer Waffen verloren hat, verfügt sie noch über bis zu 100.000 Raketen, von denen etliche in starken Bunkern stationiert sind, die nicht einfach zu zerstören sind. Ein Propagandafilm der Hisbollah zeigte vor kurzem Bunker, die groß genug für Lastwagen sind.

„Die Hisbollah hat immer noch ein riesiges Waffenarsenal, das sie gegen Israel einsetzen könnte“, sagte Julien Barnes-Dacey von der europäischen Denkfabrik ECFR zur Kleinen Zeitung. Dass die Hisbollah diese Mittel derzeit noch schone, liege nicht an mangelnden Kapazitäten, sondern daran, dass die Hisbollah einen großen Krieg gegen Israel nach wie vor vermeiden wolle.

Kein Spaziergang für Israel

Ihre besten Waffen, darunter Fateh-110-Lenkraketen mit einer Reichweite von 300 Kilometern, hat die Hisbollah bisher kaum eingesetzt. Tel Aviv und Jerusalem und Teile von Süd-Israel liegen in der Reichweite dieser modernen Geschosse. Nasrallah hatte im Frühjahr auch mit Angriffen auf das EU-Mitglied Zypern gedroht.

Mit russischen und chinesischen Raketen könnte die Hisbollah israelische Kriegsschiffe weit vor der libanesischen Küste auf dem Mittelmeer angreifen. Hinzu kommen Kamikaze-Drohnen aus iranischer und eigener Herstellung, die sich mit Sprengstoffladungen ins Ziel stürzen.

Israelische Militärs erwägen eine Bodenoffensive im Libanon, um die Hisbollah aus dem Grenzgebiet zu vertreiben und noch mehr Waffenlager zu zerstören. Die Armee mobilisierte am Mittwoch zwei zusätzliche Reservisten-Brigaden für den Einsatz an der Nordgrenze. Ein Einmarsch in den Libanon wäre für Israel aber weit gefährlicher als der Luftkrieg. Die Hisbollah kann zehntausende Kämpfer mobilisieren, die sich den israelischen Truppen entgegenstellen würden. Ein Spaziergang wäre ein Landkrieg für Israel auch gegen eine geschwächte Hisbollah nicht.