Der Libanon steht vor einem neuen Krieg. Israels Luftwaffe tötete am Montag bei den schwersten Angriffen auf die libanesische Hisbollah-Miliz seit Jahren fast 500 Menschen, mehr als 1600 Menschen wurden verletzt, wie die libanesische Regierung mitteilte. Unter den Opfern seien Frauen, Kinder und Rettungssanitäter. Zeitweise habe es mehr als 80 Einschläge innerhalb einer halben Stunde gegeben, meldete die libanesische Nachrichtenagentur NNA. Die Hisbollah antwortete nach eigenen Angaben mit dem Beschuss auf israelische Militärposten.

Israels Armee erklärte, es seien rund 1300 Ziele angegriffen worden. Ziel des neuen Angriffs war nach unbestätigten israelischen Medienberichten der Hisbollah-Kommandant Ali Karaki, der für die südliche Front zuständig war. Mit den Luftschlägen will Israel die pro-iranische Hisbollah zum Rückzug hinter den libanesischen Fluss Litani zwingen, der etwa 30 Kilometer nördlich der israelischen Grenze ins Mittelmeer mündet.

UNO-Friedensmission setzt Patrouillen aus

Die Hisbollah meldet unterdessen am Dienstag erneute Raketengriffe. Darunter seien auch eine Sprengstofffabrik, die etwa 60 Kilometer entfernt von der Grenze zum Libanon in Israel liege, sowie ein Flugplatz gewesen. Als Reaktion auf die Verschärfung der Sicherheitslage hat die UNO-Friedensmission UNIFIL, an der auch Österreich beteiligt ist, ihre Patrouillen im Grenzgebiet zwischen Israel und dem Libanon vorübergehend ausgesetzt. Das Risiko aufgrund des gegenseitigen Beschusses zwischen Israels Armee und der libanesischen Hisbollah-Miliz mache es zurzeit nötig, dass die Blauhelmsoldaten in ihren Stützpunkten bleiben. Einige zivile Mitarbeiter der Friedensmission seien mit ihren Angehörigen in Richtung der weiter nördlich gelegenen Hauptstadt Beirut geschickt worden, wo die Gefahr geringer sei.

Sorge und Kritik

Die Außenminister der G7-Staaten zeigen sich besorgt über die zunehmenden Spannungen im Nahen Osten. Es drohe ein größerer regionaler Konflikt mit „unvorstellbaren Folgen“, heißt es in einer Erklärung am Rande der UNO-Generalversammlung. Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell sprach von einer „gefährlichen Situation“, die fast einem Krieg entspreche. China sicherte dem Libanon Rückhalt zu. Die USA lehnen einem hochrangigen Vertreter des US-Außenministeriums zufolge eine Eskalation des Konflikts zwischen Israel und der Hisbollah ab. Man plane, eine Ausweitung des Krieges zu verhindern. Ziel sei es, „den Kreislauf von Angriff und Gegenangriff zu durchbrechen“.

China unterstütze den Libanon entschlossen beim Schutz seiner Souveränität, Sicherheit und nationalen Würde, sagte Außenminister Wang Yi laut seines Ministeriums in New York. Das türkische Außenministerium hat die jüngsten Angriffe Israels auf den Libanon als „Bemühungen, die gesamte Region ins Chaos zu stürzen“ verurteilt. In einer Erklärung fordert die Türkei den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen und die internationale Gemeinschaft dazu auf, unverzüglich Maßnahmen zu ergreifen. Jene Länder, die „Israel bedingungslos unterstützen“, würden Israels Premier Benjamin Netanyahu dabei helfen, „für seine politischen Interessen Blut zu vergießen“.

„Operation Litani“

Der 150 Kilometer lange Litani ist ein Symbol für die Konflikte im Süd-Libanon. Schon der erste Einmarsch Israels in das Gebiet 1978, der sich gegen die Palästinensische Befreiungsorganisation (PLO) richtete, trug den Code-Namen „Operation Litani“. Israelische Soldaten stießen damals bis zu dem Fluss vor. Vier Jahre später schickte Israel wieder Truppen in den Libanon und zwang die PLO-Führung zur Flucht aus Beirut ins Ausland. Nach dem Ende des Krieges 1985 kontrollierte Israel noch 15 Jahre lang Teile des Süd-Libanon.

Heute kämpft Israel gegen die Hisbollah, die in den frühen 1980er-Jahren mit Hilfe des Iran von libanesischen Schiiten gegründet wurde. Seit Beginn der jüngsten Eskalation vorige Woche sind bei israelischen Angriffen im Libanon fast 300 Menschen getötet worden. Am Montag wurden Ziele im Süden Libanons und im Bekaa-Tal weiter nördlich getroffen. Bilder libanesischer Medien zeigten brennende Krankenwagen. Viele Menschen flohen aus den Kampfgebieten. Israel warf der Hisbollah vor, Raketenwerfer in zivilen Wohnhäusern stationiert zu haben.

Gegenseitige Vorwürfe

Die israelische Regierung verweist darauf, dass die Hisbollah mit der Waffenstationierung südlich des Litani-Flusses die UN-Resolution 1701 verletzt. Die libanesische Regierung und die Hisbollah erwidern, Israel verstoße selbst gegen die Entschließung.

Die Resolution 1701 des Sicherheitsrates beendete im Jahr 2006 den letzten Krieg zwischen Israel und der Hisbollah. Sie verpflichtete die Miliz, alle Truppen und Waffen aus dem Gebiet zwischen dem Litani und der israelischen Grenze abzuziehen; Israels Armee sollte den Libanon verlassen. Damit entstand eine etwa 30 Kilometer breite Pufferzone zwischen Israel und der Hisbollah, die von UN-Truppen patrouilliert wird. Nord-Israel wurde so zeitweise vor einem Teil der Hisbollah-Waffen geschützt: Viele Raketen der Miliz haben eine Reichweite von weniger als zehn Kilometern.

Die UN-Soldaten konnten nach 2006 nicht verhindern, dass Hisbollah-Kämpfer und -Raketen wieder über den Litani nach Süden verlegt wurden. Die libanesische Regierung wirft Israel vor, die libanesische Souveränität mit Luftangriffen und anderen Aktionen zu verletzen. Dennoch blieb die Lage im Süd-Libanon fast 20 Jahre lang relativ stabil.

Fast tägliche Raketenangriffe

Das änderte sich im vorigen Oktober, als die Hisbollah zur Unterstützung der Hamas in Gaza mit fast täglichen Raketenangriffen auf Israel begann und Israel zurückschlug. Zehntausende Bewohner von Nord-Israel und Süd-Libanon sind von den Kämpfen vertrieben worden.

Nun will Israel die Hisbollah mit den neuen Angriffen im Libanon wieder bis hinter den Litani-Fluss treiben, damit die israelischen Zivilisten in den Norden des Landes zurückkehren können. Wenn die internationale Gemeinschaft die Resolution 1701 nicht durchsetze, dann werde Israel das eben selbst tun, sagte Außenminister Israel Katz.

Simon Waldman, Nahost-Experte am King’s College in London, sieht in der Wiederbelebung der UN-Trennlinie am Litani-Fluss die einzige Möglichkeit, die neue Spirale der Gewalt zu stoppen. Wenn die USA den Partner Israel dazu bringen wollten, den Konflikt mit der Hisbollah nicht weiter zu eskalieren, dann müssten sie „irgendeinen Mechanismus finden, die Resolution 1701 umzusetzen“, sagte Waldman unserer Zeitung. Jede Lösung, die diesen Punkt außer Acht lasse, würde in Israel als Niederlage verstanden, meint Waldman.

Lösung zeichnet sich nicht ab

Noch zeichnet sich keine Lösung ab. Die israelische Regierung denkt deshalb über eine neue Besetzung von Süd-Libanon nach. Seit Tagen werden israelische Panzerverbände an die Grenze zum Libanon verlegt. Generalmajor Ori Gordin, Befehlshaber der israelischen Truppen im Nordteil des Landes, fordert nach Medienberichten die Einrichtung einer militärisch gesicherten israelischen Pufferzone im Süden des Nachbarlandes. Wenn sich der General mit der Forderung durchsetzt, könnte der Litani-Fluss bald wieder zum Ziel eines israelischen Einmarsches werden.