In einer weiteren massiven Eskalation im Konflikt mit der Schiitenmiliz Hisbollah hat Israel am Montag Hunderte Ziele im Libanon angegriffen. Nach Angaben des libanesischen Gesundheitsministeriums vom späten Abend wurden 492 Menschen getötet, darunter 35 Kinder, 1.645 Menschen wurden verletzt. Es ist die höchste Opferzahl im Südlibanon seit Beginn der kriegsähnlichen Auseinandersetzungen zwischen Israel und der proiranischen Hisbollah vor fast einem Jahr.

Unterdessen beschloss Israel wegen zu erwartender Gegenattacken einen landesweiten Ausnahmestand. Laut einem Regierungsvertreter wurde dies bei einer telefonischen Befragung entschieden.

Die Entscheidung bedeutet nach Medienberichten unter anderem, dass die Größe von Versammlungen eingeschränkt werden kann. Bisher hat die Armee allerdings noch keine neuen Anweisungen veröffentlicht. Der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanyahu versammelte nach Medienberichten das Sicherheitskabinett zu weiteren Beratungen im Militärhauptquartier in Tel Aviv.

Wie die Austrian Airlines Montagabend der APA mitteilten, bleiben wegen der instabilen Lage in der Region die Verbindungen von und nach Tel Aviv sowie von und nach Teheran weiterhin bis einschließlich 14. Oktober ausgesetzt. Die Verbindungen nach Amman und Erbil finden wie geplant statt. Betroffenen Fluggästen werden Umbuchungs- und Stornierungsmöglichkeiten angeboten, hieß es weiter.

Mehr als „300 Hisbollah-Ziele“ angegriffen

Nach den intensiven Bombardierungen im Süden durch Israels Luftwaffe wurden am Nachmittag auch Stellungen in der Bekaa-Ebene im Nordosten des Libanons angegriffen, wie es aus Sicherheitskreisen hieß. Die Hisbollah feuerte Dutzende Raketen auf Stellungen im Norden Israels. Dabei zielte die Miliz unter anderem auf Anlagen der Rüstungsindustrie nahe der Hafenstadt Haifa sowie auf Militärstützpunkte.

Das israelische Militär meldete allein am Montag mehr als 300 Angriffe auf „Terror-Ziele“ der Hisbollah. Auf in sozialen Medien geteilten Videos war zu sehen, wie etwa in der libanesischen Küstenstadt Tyros mindestens neun massive Rauchsäulen aufstiegen.

Zuvor hatte es Berichte gegeben über Warnungen an die Zivilbevölkerung im Libanon durch Roboteranrufe mit im Voraus aufgezeichneten Nachrichten oder per SMS. Man solle sich bis auf weiteres von Dörfern fernhalten, in deren Gebäuden Waffen der Hisbollah gelagert seien, habe es geheißen. Das libanesische Informationsministerium bezeichnete die Aktion als „psychologische Kriegsführung“ Israels. Die Libanesen seien aufgefordert, den Nachrichten und Anrufen „nicht mehr Aufmerksamkeit zu schenken als nötig“.

Warnungen via Smartphone
Warnungen via Smartphone © AFP / Joseph Eid

Israels Armee hatte die Angriffe im Nachbarland bereits in den vergangenen Tagen ausgeweitet. Auch dabei gab es Dutzende Tote und Verletzte. Die Armee weicht Fragen, ob auch eine Bodenoffensive des Militärs möglich sei, bisher aus. Bei einem Einmarsch israelischer Truppen im Libanon wäre eine noch größere Beteiligung verbündeter Milizen der Hisbollah in der Region oder des Irans nicht ausgeschlossen.

8.800 Raketen und Drohnen auf Israel

Die Hisbollah und Israel liefern sich seit bald einem Jahr fast täglichen Beschuss. Dabei wurden mehr als 500 Hisbollah-Kämpfer und zwei Dutzend Zivilisten im Libanon sowie 48 Soldaten und Zivilisten in Israel getötet. Zudem mussten 150.000 Menschen auf beiden Seiten der Grenze ihre Wohnorte verlassen. Die kriegsähnliche Auseinandersetzung hat sich nach der Explosion Tausender Kommunikationsgeräte im Libanon sowie einem israelischen Angriff auf die Hisbollah-Führung nahe Beirut mit mehr als 50 Toten, darunter Zivilisten, in der vergangenen Woche noch einmal verstärkt. Nach Angaben des israelischen Militärs feuerte die Hisbollah am Montag 150 Geschosse auf zivile Orte in Israel.

Die Hisbollah ist nach mehreren Angriffen geschwächt und hat zuletzt die schwersten Schläge seit Jahrzehnten erlitten. Insgesamt habe die Hisbollah binnen knapp eines Jahres mehr als 8.800 Raketen und Drohnen auf israelisches Gebiet gefeuert, erklärte das israelische Militär. Vor Beginn der Hisbollah-Angriffe am 8. Oktober 2023 lagen die Schätzungen des Hisbollah-Arsenals bei 150.000 Raketen, Drohnen und Marschflugkörpern.

„Panik und Chaos“ im Libanon

Viele Bewohner waren nach den jüngsten Luftangriffen im Süden des Libanon in Panik. Zahlreiche Menschen würden unter anderem aus Vororten der Stadt Tyros im Süden fliehen, hieß es. Einige eilten ins Zentrum der Küstenstadt und zum dortigen Gelände der UNO-Beobachtermission UNIFIL. Die Straßen füllten sich mit Autos von Menschen, die offenbar in Richtung Beirut oder anderer Orte im Norden des Landes fahren wollten. Auf den Straßen kam es zu Staus.

Es herrsche „Panik und Chaos“, berichteten Augenzeugen. In der Küstenstadt Sidon, die etwa auf halber Strecke zwischen Tyros und Beirut liegt, kam der Verkehr zeitweise komplett zum Erliegen. Autofahrer teilten Videos in sozialen Medien, die zeigen, wie massenhaft Libanesen in Richtung Norden fahren.

Die Krankenhäuser im Libanon bereiteten sich auf viele Verletzte vor. Das Gesundheitsministerium forderte die Häuser im Süden und einige im Osten des Landes auf, nicht dringend notwendige Operationen zu verschieben. Damit solle Platz geschaffen werden für Verwundete der sich verstärkenden israelischen Angriffe. Das Gesundheitssystem im Libanon ist auch wegen einer jahrelangen Krise in dem kleinen Land völlig überlastet. Es fehlt an Arzneimitteln, Ausrüstung und Personal. Einige Krankenhäuser mussten den Betrieb aus Geldnot zurückfahren oder schließen.

Die Schulen im Süden und teils im Osten des Landes blieben geschlossen und sollten das auch am Dienstag bleiben. Die aktuelle Lage gefährde die Sicherheit von Schülern, sagte Bildungsminister Abbas al-Halabi. Einige Schulen hätten begonnen, Vertriebene aufzunehmen, und würden in Notunterkünfte verwandelt, sagte Halabi dem Fernsehsender LBCI.

Israels Armee warnte Bewohner der Bekaa-Ebene

Die Regierung des Libanon warf Israel angesichts der Angriffe „einen Vernichtungskrieg in jedem Sinne des Wortes“ vor. „Wir als Regierung arbeiten daran, diesen neuen Krieg Israels zu stoppen und einen Abstieg ins Unbekannte zu verhindern“, sagte der geschäftsführende Ministerpräsident Najib Mikati.

Am Nachmittag warnte die israelische Armee auch Bewohner der Bekaa-Ebene im Nordosten des Landes. Wer sich in der Nähe eines Wohnhauses aufhalte, in denen Waffen der Hisbollah versteckt seien, solle sich binnen zwei Stunden mindestens einen Kilometer entfernen. Die Bekaa-Ebene liegt im Nordosten des Libanon und etwa zwei Autostunden von Beirut entfernt. Das Gebiet ist Gründungsort der Hisbollah.

Hisbollah handelt aus Solidarität zur Hamas

Israel und die Hisbollah haben bereits 1982 und 2006 Krieg gegeneinander geführt. Die vom Iran unterstützte Miliz ist heute deutlich stärker bewaffnet als während des Kriegs vor fast 20 Jahren. Sie handelt nach eigener Darstellung aus Solidarität mit der islamistischen Hamas, die im Gazastreifen gegen Israel kämpft. Hisbollah und die Hamas werden vom Iran unterstützt.

Israels Armee hat die Zahl seiner Angriffe im Gazastreifen zuletzt verringert und konzentriert sich zunehmend auf die Hisbollah. Israel will erreichen, dass sich die Miliz wieder hinter den 30 Kilometer von der Grenze entfernten Litani-Fluss zurückzieht - so wie es die UNO-Resolution 1701 vorsieht, die das Kriegsende 2006 markierte. Der Resolution zufolge darf die Hisbollah entlang der Grenze nicht präsent sein. Dies wird aber weder von der UNO-Beobachtermission noch von der libanesischen Armee durchgesetzt. Israel hat die Rückkehr seiner Bewohner in ihre Wohnorte im Norden zu einem der Ziele im Gazakrieg erklärt.

Israels Verteidigungsminister Yoav Gallant sagte bei einer Beratung, das Land vertiefe seine Angriffe im Libanon. Dies würde weitergehen, bis Israel das Ziel erreicht haben werde, die sichere Rückkehr der Einwohner seines Nordabschnitts zu gewährleisten. „Wir haben Tage vor uns, an denen die Öffentlichkeit Gefasstheit, Disziplin und eine volle Einhaltung der Anweisungen der Heimatfront zeigen muss“, sagte Galant.