Erstmals ist die AfD bei einer deutschen Landtagswahl stärkste Kraft geworden. In Thüringen liegt sie nach Hochrechnungen von ARD und ZDF auf Platz eins. Bei der Landtagswahl in Sachsen legt sie ebenfalls zu und liefert sich ein enges Rennen mit der CDU um den ersten Platz. Aus dem Stand stark zweistellig wird in beiden Ländern das neue Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW). Für die Parteien der Ampel-Koalition im Bund, die fast alle an Stimmen verlieren, ist es ein bitterer Abend.
Leitartikel von Peter Riesbeck
ÖVP-Generalsekretär findet die „Stärkung der radikalen Ränder in Deutschland alarmierend“. Er bezog sich in seiner Reaktion auch auf FPÖ-Chef Herbert Kickl, dem er attestierte, dass dieser den Menschen „das Blaue vom Himmel“ verspreche. Kickl selbst gratulierte der AfD zu historischen Wahlergebnissen. Der klare Sieg in Thüringen und das Kopf-an-Kopf-Rennen mit der CDU in Sachsen seien Ausdruck der Hoffnung auf einen Systemwechsel. „Die Systemparteien wurden massiv abgestraft“, freute sich der FPÖ-Chef.
Hintergrund
In Thüringen steigert sich den Hochrechnungen zufolge die AfD auf 32,0 bis 33,2 Prozent (2019: 23,4 Prozent), die CDU landet bei 23,9 bis 24,2 Prozent (21,7). Aus dem Stand schafft das BSW 15,4 bis 15,7 Prozent – und lässt damit die Linke von Ministerpräsident Bodo Ramelow weit hinter sich, die dramatisch auf 11,4 bis 12,6 abstürzt (31,0). Starke Verluste verbuchen die Parteien der Berliner Ampel-Regierung: Die SPD liegt mit 6,1 bis 6,4 Prozent noch unter ihrem bisher schlechtesten Ergebnis in Thüringen von 2019 (8,2). Die Grünen scheiden mit 3,5 bis 3,9 (5,2) aus dem Parlament aus, ebenso die FDP mit 1,2 Prozent (5,0).
Die bisherige rot-rot-grüne Minderheitskoalition unter Regierungschef Ramelow (Linke), die seit 2019 auf eine Zusammenarbeit mit der CDU angewiesen war, hat keine realistische Möglichkeit zum Weiterregieren. Die AfD, vom Landesverfassungsschutz als gesichert rechtsextremistisch eingestuft, bleibt bei der neuen Regierung außen vor, denn die übrigen Parteien schließen eine Koalition aus. Trotzdem sieht Thüringens AfD-Chef Björn Höcke den Regierungsauftrag bei seiner Partei. Er wolle mit den anderen Parteien über Koalitionen ins Gespräch kommen, sagte der 52-Jährige, der wegen der Nutzung einer Nazi-Parole vor einigen Wochen in erster Instanz zweimal zu Geldstrafen verurteilt wurde.
Die wahrscheinlichste Option für eine Koalition wäre den Hochrechnungen zufolge ein nie dagewesenes Bündnis aus CDU, BSW und SPD. Das BSW, eine Abspaltung von der Linken, nimmt damit eine entscheidende Position ein. Thüringens CDU-Chef Mario Voigt sieht in den Prognosen den Auftrag zur Regierungsbildung unter seiner Führung, wie der 47-Jährige am Wahlabend sagte. Er kündigte an, auf die SPD zugehen zu wollen und auch zum BSW „gesprächsoffen“ zu sein.
AfD der CDU in Sachsen dicht auf den Fersen
In Sachsen steht die CDU bei 31,7 Prozent (2019: 32,1 Prozent). Die AfD liegt knapp dahinter mit 30,6 bis 31,4 Prozent (27,5). Das BSW erreicht aus dem Stand 11,5 bis 12,0 Prozent. Die SPD liegt bei 7,5 bis 7,8 Prozent (7,7). Die Linke erreicht 4,0 bis 4,6 Prozent - und kommt damit auf weniger als die Hälfte der Stimmen von vor fünf Jahren (10,4). Auch die Grünen müssen mit 5,2 Prozent (8,6) zittern. Die FDP verpasst erneut den Einzug ins Parlament - wie schon bei den vergangenen zwei Landtagswahlen. Alle Parteien, die unter fünf Prozent liegen, können es allerdings dann in den sächsischen Landtag schaffen, wenn sie zwei Direktmandate gewinnen.
Sachsen hat seit der Wiedervereinigung eine CDU-geführte Regierung – seit 2019 steht Ministerpräsident Michael Kretschmer an der Spitze einer Koalition mit Grünen und SPD. Nach den ersten Zahlen könnte er diese Koalition fortsetzen. Kretschmer sagte, seine CDU stehe bereit, wieder Verantwortung zu übernehmen und eine stabile Regierung zu bilden. Mit der AfD, die auch in Sachsen als gesichert rechtsextremistisch eingestuft wird, will keine der anderen Parteien koalieren.
Gewinnt die AfD in Thüringen und Sachsen je mehr als ein Drittel der Landtagsmandate, hätte sie eine sogenannte Sperrminorität: Entscheidungen und Wahlen, die eine Zweidrittelmehrheit erfordern, müssten ihre Zustimmung finden. So werden etwa die Verfassungsrichter vom Parlament mit Zweidrittelmehrheit gewählt.
Wahlergebnis in Thüringen und Sachsen für Ampel-Koalition ein Desaster
Für die Ampel-Koalition in Berlin sind die Zahlen ein Desaster: Für die SPD wäre das Ergebnis in Thüringen das schlechteste Ergebnis bei einer Landtagswahl seit Gründung der Bundesrepublik Deutschland. Die FDP ist in keinem der beiden Landtage vertreten. Die Grünen erleiden in beiden Ländern deutliche Verluste.
SPD-Generalsekretär Kevin Kühnert kündigte eine stärkere Profilierung der Sozialdemokraten an. Es gehe darum, „sich stärker zu emanzipieren“. Man wolle sich „nicht mehr auf der Nase herumtanzen lassen von anderen, die krachend aus den Landtagen jetzt rausgewählt worden sind“, sagte er mit Blick auf Auseinandersetzungen mit FDP und Grünen in der Ampel-Koalition im Bund. Aus Sicht von Grünen-Chef Omid Nouripour ist der Streit mit ein Grund für das schlechte Abschneiden der Ampel-Parteien. Man müsse sich „an die eigene Nase fassen“.
FDP-Chef Christian Lindner schrieb auf der Plattform X: „Die Ergebnisse in Sachsen und Thüringen schmerzen. Aber niemand soll sich täuschen, denn wir geben unseren Kampf für liberale Werte nicht auf.“
BSW-Parteichefin Wagenknecht sprach von einem grandiosen Erfolg. Viele Menschen bewege das Thema Frieden zutiefst. Sie lehnten die geplante Stationierung weitreichender US-Raketen in Deutschland ab. Eine Landesregierung müsse diesen Wunsch berücksichtigen und sich auf Bundesebene dafür einsetzen.
Auch CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann wertete die Wahlen als Erfolg für seine Partei. Er sehe „eine echte verbliebene Volkspartei“, sagte er. „Wir sind das Bollwerk.“
(Artikel am 1.9. um 20.45 Uhr mit Reaktionen und Koalitionsmöglichkeiten aktualisiert)