Unzählige Menschen, die Hilfe brauchen. Schreckliche Verletzungen. Explosionen und Schüsse, die immer näher kommen. Der permanente Ausnahmezustand. Das sind die Bedingungen, unter denen Ärzte wie Sandy Inglis im Gaza-Streifen arbeiten.
Kampfhandlungen vor der Haustür
Er hat schon in anderen Krisengebieten wie dem Sudan oder Neu-Guinea gearbeitet. „Gaza ist auf jeden Fall mein bisher extremster Einsatz“, sagt Inglis zur Kleinen Zeitung. Das liege vor allem an der Nähe des Konflikts. „Man sieht immer wieder das Aufblitzen von Schüssen, Raketen, Rauch und Staubwolken. Die Frontlinie kommt immer näher.“ Je näher die Angriffe rücken, desto schneller kommen auch die Verletzten zu Inglis. Er arbeitet im Feldspital des Internationalen Roten Kreuzes, das in der südlichen Stadt Rafah aufgestellt wurde.
Nach Explosionen dauert es oft nur wenige Minuten, bis die ersten Verletzten eintreffen. Am schlimmsten war es für den Arzt Ende Juni, als es alle zwei bis drei Tage zu Massenanfällen an Verletzten kam. Das bedeutet, dass so viele Menschen auf einmal Hilfe brauchen, dass nicht genug Platz im Spital ist. „Der Plan war anfangs, das Feldspital auf einzelne Stationen nach Fachabteilungen zu trennen. Aber wir mussten alle 62 Betten mit Traumapatienten füllen.“ Sie kamen mit gebrochenen Beinen und großflächigen Wunden.
Seit Mitte August sei die Lage zwar etwas besser, schwere Verletzungen stehen aber nach wie vor an der Tagesordnung. „Einmal wurden zwei Brüder gemeinsam eingeliefert. Bei einer Explosion wurden die Beine von einem der beiden so schwer verletzt, dass uns klar war: Er kann das nicht überleben. Während er ausblutete, weinte sein Bruder verzweifelt nach ihm.“ Viele Patienten bekommen zudem bei Explosionen Metallsplitter in den Bauch, die Lunge oder andere Organe und müssen operiert werden. „Einem Patienten mussten wir wegen der Splitter die Beine amputieren“, erzählt Inglis.
Von schrecklichen Verletzungen kann auch Lisa Macheiner viel erzählen. Die Salzburgerin ist Projektkoordinatorin für Ärzte Ohne Grenzen in Gaza. Sie war zuletzt bis Mitte Juli in einem Spital in Rafah und wird bald ihren nächsten Einsatz in Gaza beginnen. Vor allem die hohe Betroffenheit von Kindern sei dort besonders schlimm. „Dort sieht man Null- bis Dreijährige, denen Arme und Beine fehlen. Es sind so viele, dass es nicht genug Prothesen für sie gibt“, schildert sie der Kleinen Zeitung. Auch Sandy Inglis bekam viele junge Patienten zu Gesicht: „Es ist entsetzlich. Ein Kind hatte eine Kugel im Nacken, einem Teenager wurde durch den Kopf geschossen.“ Das liegt unter anderem an der besonders jungen Bevölkerung von Gaza. Rund die Hälfte der Einwohner ist jünger als 18 Jahre.
Zu den Verwundungen kommen noch weitere Probleme. Die hygienischen Zustände sind in Gaza mitunter so schlecht, dass selbst behandelte Wunden wieder infiziert werden. „Wir haben Patienten behandelt, die mit Maden in den Wunden wieder zu uns zurückkommen“, sagt Macheiner. Die Ressourcen reichen nicht, um Patienten länger zu behalten. „Wir müssen sie nach der Behandlung in eine Umgebung entlassen, wo katastrophale hygienische Zustände herrschen.“
Keine sicheren Orte
Ein weiteres Problem ist die mangelhafte Versorgung mit Nahrungsmitteln in Gaza. Schwere Brandverletzungen, bei denen der Körper viel an Flüssigkeit verliert, verheilen ohne adäquate Ernährung nicht. Außerdem kommt es bei Medikamenten und Materialien immer wieder zu Engpässen. „Wir haben zu wenig Antibiotika, Spritzen oder Schmerzmittel. Wir müssen sehr sparsam damit umgehen“, sagt Sandy Inglis.
Für Lisa Macheiner kommt hinzu, dass Einsatzgebiete andauernd evakuiert werden müssen. Seit Oktober hat sie 15 Übersiedlungen erlebt: „Du weißt nie, wann die Angriffe wirklich losgehen. Oft bleibt nicht genug Zeit, um alle Materialien mitzunehmen.“ Als Koordinatorin kann sie daher keine zwei Tage vorausplanen. „Was man heute geschafft hat aufzubauen, kann morgen wieder weg sein.“ Sogar als sicher deklarierte Zonen sind in Gaza gefährlich. Im Juli hat Macheiner einen Angriff auf eine sogenannte „humanitäre Zone“ mitbekommen. „Es ist nirgendwo in Gaza sicher. Ich habe mich noch nie so bedroht gefühlt.“ Kampfhandlungen finden manchmal einen halben Kilometer von der Haustür entfernt statt. Ein Luftangriff ist nur 150 Meter neben dem Krankenhaus eingeschlagen.
Der Konflikt ist seit dem siebten Oktober auch ständig Thema in den Medien. Macheiner hat jedoch nicht das Gefühl, dass die Menschen im Westen wirklich verstehen, was in Gaza passiert. „Das ist für die Leute in Österreich zu weit weg.“ Sie hat nicht nur das Leid von Fremden gesehen, auch ihre Kollegen vor Ort haben Kinder und Verwandte verloren. „Die Anzahl der Menschenleben, die ich sterben gesehen habe, ist inakzeptabel.“
In der Berichterstattung vermisst sie oft einen menschlichen Zugang. „Man sollte aufhören, das nur in Analysen und Zahlen auszudrücken und zur Menschlichkeit zurückkehren. Wir sehen Kinder ohne Beine, Kinder ohne Kopf. Wenn man das erlebt, dann sind das keine abstrakten Zahlen mehr.“
Die „mutigsten, unglaublichsten“ Menschen
Macheiner hatte schon mehrere Einsätze in Gaza. Nach einem Aufenthalt auszusteigen, ist für sie jedes Mal herausfordernd. „Ich bin immer besorgt um mein Team. Sobald ich in den Nachrichten was von Luftangriffen lese, kontaktiere ich meine Kollegen und mache mir Sorgen.“ Trotz der schrecklichen Lage startet sie im September ihren nächsten Einsatz.
Die unvorstellbaren Umstände hinterlassen auch bei Sandy Inglis Spuren. „Ich weiß oft gar nicht, welcher Tag heute ist. Die Arbeit geht immer weiter. Man schläft nicht besonders gut, weil es auch nachts zu Explosionen kommt. Das ist sehr anstrengend“, erzählt der Arzt. Motivation und Kraft bekommt er aber von der lokalen Bevölkerung, die ihm und seinem Team unendlich dankbar ist. „Sie laden uns manchmal sogar zum Essen ein, obwohl Nahrungsmittel für sie ständig knapp sind.“
Beeindruckt ist Inglis auch vom Mut der lokalen Mitarbeiter des Palästinensischen Roten Halbmonds. Wenn ein Spital in der nahegelegenen Stadt Khan Younis überfüllt ist, überstellen sie Patienten nach Rafah. Dabei durchqueren sie oft Kampfgebiete und setzen sich lebensgefährlichen Situationen aus. „Das sind die mutigsten, unglaublichsten Menschen“, sagt Inglis.