Tausende Menschen gehen seit Tagen in mexikanischen Großstädten wie Puebla, León oder Mexiko-Stadt auf die Straße. Sie demonstrieren gegen die geplante Justizreform des scheidenden mexikanischen Präsidenten Andrés Manuel López Obrador. Er hält die Justiz seines Landes für korrupt und will das System völlig auf den Kopf stellen.
Im September soll eine Justizreform und Verfassungsänderung beschlossen werden, die unter anderem vorsieht, dass alle Bundesrichter schrittweise entlassen und künftig direkt vom Volk gewählt werden. Kritiker befürchten, dass die Justiz dadurch in Zukunft von Parteien kontrolliert wird. Denn die Richter müssten sich Unterstützung für einen Wahlkampf suchen, die sie bei politischen Organisationen finden könnten.
Ende der Gewaltenteilung
Zudem warnen Beobachter vor einem Ende der Trennung der drei „Poderes“, also der Gewalten. Die linke „Morena“-Partei von Präsident López Obrador hat schon jetzt die Macht über Exekutive (Regierung) und Legislative (Parlament). Durch die Reform würde auch ihr Einfluss auf die Judikative erheblich zunehmen.
Zu den Demonstrierenden gehören auch zahlreiche Mitarbeiter des Justizwesens. Viele von ihnen könnten durch die Reform ihren Beruf verlieren, denn viele Stellen würden künftig durch politische Gremien besetzt anstatt durch den bisher zuständigen Justizrat. „Natürlich braucht unser Justizsystem Reformen. Aber jeden zu entlassen und viele Menschen ohne Arbeit dastehen zu lassen, ist nicht die Antwort“, sagte der Anwalt Rogelio Palacios zur Nachrichtenagentur „AP“ bei einem Protest in Mexiko-Stadt. Auch die Justizangestellte Guadalupe Vázquez ist verärgert: „Ich bin erschüttert, denn ich arbeite seit 22 Jahren für diese Institution. Wir haben keine Lust, arbeitslos zu werden.“
Politikwissenschafter Johannes Maerk vom FH Campus Wien glaubt trotz der Proteste, dass die große Mehrheit der 127 Millionen Mexikanerinnen und Mexikaner die Reformpläne befürwortet. Denn das aktuelle Justizsystem des Landes sei tatsächlich korrupt. „Eine Mehrzahl der Verbrechen wird nicht verfolgt und bleibt unaufgeklärt“, sagt Maerk zur Kleinen Zeitung. Das System sei von der organisierten Kriminalität unterwandert. Richter werden bestochen oder bedroht, weshalb ein Zustand der „Impunidad“ („Straflosigkeit“) herrscht. Gerichtsverfahren finden nach schweren Straftaten oft gar nicht erst statt.
Gefahr durch „Stimmungsjustiz“
Der Politikwissenschafter hält die Kritik des Präsidenten daher für gerechtfertigt: „Er hat da schon einen Punkt, er hat das Problem richtig erkannt. Seine Reform ist aber der falsche Ansatz.“ Weltweit gibt es keine vergleichbare Regelung, die Reform sei ein „Experiment am offenen Herzen“.
Wenn Richter direkt vom Volk gewählt werden, müssen sie sich um ihre Beliebtheit kümmern. „Das kann dazu führen, dass Richter bei gewissen Fällen härtere Urteile treffen, um die Wut auf der Straße zu befriedigen und wiedergewählt zu werden“, so Maerk. Eine ähnliche Einschätzung hat auch Günther Maihold von der Freien Universität Berlin. „Die Justiz würde viel stärker durch Stimmungen geleitet werden“, sagt der Politikwissenschafter zur Kleinen Zeitung.
Ein weiterer Aspekt der Reform sieht eine zeitliche Begrenzung von Verfahrensdauern vor. Steuerverfahren dürften demnach nur noch ein halbes Jahr dauern, strafrechtliche Verfahren wären auf ein Jahr beschränkt. „Da stellt sich schon die Frage, wie alle juristischen Konflikte innerhalb dieser Fristen entschieden werden sollen“, kritisiert Maihold. Der Experte vermutet zudem, dass die Politisierung der Justiz vielerorts zu weniger Professionalität im mexikanischen Rechtswesen führen wird.
Die Pläne des Präsidenten würden nicht nur das Personal selbst beeinflussen, sondern auch die Bedeutung von Gerichtsurteilen. Zur Reform gehört nämlich die Einsetzung einer Art „Kontrollgericht“, eines politisch besetzten Disziplinartribunals, das die Arbeit von Richtern und Staatsanwaltschaften überprüfen soll. „Hier ist die Fülle an Einflussmöglichkeiten groß“, sagt Maihold. Auch Johannes Maerk vom FH Campus Wien hält das für „sehr problematisch“: „In dem Fall könnten richterliche Urteile verändert werden. So etwas gibt es in Demokratien nicht.“
Kritik aus dem Ausland
Der US-amerikanische Botschafter in Mexiko, Ken Salazar, sagte vergangene Woche, dass die geplante Gesetzesreform Mexikos der Demokratie „schaden“ würde. Auch der kanadische Botschafter Graeme Clark äußerte Bedenken. Mexikos Präsident López Obrador sprach daraufhin von „Interventionsversuchen“ der nordamerikanischen Länder. „Wir werden keinen Vertretern fremder Länder erlauben, sich in unsere Angelegenheiten einzumischen“, sagte der Präsident bei einer Pressekonferenz.
Sorgen machen sich nicht nur ausländische Regierungen, sondern auch Unternehmen, die in Mexiko investieren wollen. „Auf den Märkten gab der Peso bereits nach und viele ausländische Firmen halten sich mit Investitionen in Mexiko zurück“, sagt Günther Maihold. Es gebe derzeit einige Unternehmen, die wegen der US-Handelspolitik ihre Produktionsstätten von China nach Mexiko verlagern wollen. Die sind nun aber um die mexikanische Rechtssicherheit besorgt.
Die Reform wird voraussichtlich trotz der massiven Kritik noch im September durch die Abgeordnetenkammer und den Senat bestätigt. Sie ist das letzte Projekt des scheidenden Präsidenten López Obrador. Ab Oktober übernimmt dann seine enge Verbündete und Wahlgewinnerin Claudia Sheinbaum das Amt. Sie wird die etwaigen Auswirkungen der umstrittenen Verfassungsänderung verantworten müssen.