Gefechte mit mehr als 300 Raketen und Luftangriffen entlang der Grenze zweier Nachbarstaaten würden in den meisten Weltregionen als Krieg bezeichnet. An der Grenze zwischen dem Libanon und Israel ist das anders. Als die libanesische Hisbollah-Miliz am frühen Sonntagmorgen nach Präventivschlägen israelischer Kampfjets im Libanon ihre Raketen auf Israel abfeuerte, heulten in Nord-Israel zwar die Luftalarmsirenen. Doch am Morgen zogen in Tel Aviv die Börsenkurse an, und der wichtigste Flughafen in Israel nahm nach einer kurzen Unterbrechung den Flugbetrieb wieder auf. Denn rasch war klar, dass es keinen großen Krieg geben würde.

Israel verhängte nach dem Hisbollah-Angriff zunächst einen 48-stündigen Ausnahmezustand, hob die meisten Beschränkungen für Zivilisten wie ein Verbot öffentlicher Versammlungen zu Mittag aber wieder auf. Die Börse in Tel Aviv legte der Nachrichtenagentur Reuters zufolge zu, weil Händler und Investoren sicher waren, dass die Konfrontation im Griff sei. Israel schickte wie geplant seine Geheimdienstchefs zur Fortsetzung der Verhandlungen über eine Gaza-Feuerpause nach Kairo.

Hunderttausende Raketen in Bunkern und Depots

Die Hisbollah hätte wesentlich mehr Geschosse auf Israel feuern können als die 320 Katjuscha-Kurzstreckenraketen, die am Sonntag zum Einsatz kamen. Die Katjuschas gehören zu den schwächsten Waffen im Arsenal der libanesischen Miliz, die Hunderttausende Raketen in Depots und Bunkern bereithält. Dennoch beschränkte sich die Hisbollah auf die Katjuschas und ein paar Drohnen, von denen die meisten von der israelischen Flugabwehr abgefangen wurden.

Hisbollah-Vertreter erklärten laut der staatlichen iranischen Nachrichtenagentur Irna, die Miliz habe „zwei wichtige Stellungen nördlich von Tel Aviv“ getroffen. Israel hatte kurz vor dem Hisbollah-Angriff mit hundert Kampfflugzeugen mehrere Dutzend Abschussrampen der Miliz im Libanon zerstört. Damit sei ein größerer Angriff der Hisbollah verhindert worden, erklärte das israelische Militär. Auf der libanesischen Seite der Grenze starben drei Menschen. Israels Luftwaffe griff im Laufe des Sonntags weitere Abschussrampen der Hisbollah an.

„Nichts Substanzielles“

Während die israelische Armee und die Regierung sich selbst dafür lobten, der Hisbollah bei der Vorbereitung eines Großangriffs in den Arm gefallen zu sein, behaupteten die Hisbollah und ihr Beschützer Iran, die hochgerüstete israelische Armee habe versagt. Die Hisbollah dementierte, dass Israel ihr mit den Luftschlägen in der Nacht geschadet habe. „Nichts Substanzielles“ sei von den israelischen Jets getroffen worden, schrieb auch der iranische Regierungsberater Mohammad Marandi auf X.

Verhängte 48-stündigen Ausnahmezustand: Israels
Premier Netanjahu (Dritter von rechts)
Verhängte 48-stündigen Ausnahmezustand: Israels Premier Netanjahu (Dritter von rechts) © IMAGO

Ob substanziell oder nicht: Keine der beiden Seiten wollte die Eskalation weiter anheizen, obwohl sie sich seit Ausbruch des Gazakrieges im Oktober fast täglich an der israelisch-libanesischen Grenze bekämpfen. Israels Außenminister Israel Katz betonte, sein Land wolle keinen Krieg. Die Hisbollah erklärte ihr jüngstes Gefecht mit Israel am Sonntagvormittag für beendet. „Die erste Phase“ der Vergeltung für den Tod von Hisbollah-Kommandeur Fuad Schukr bei einem israelischen Luftschlag in Beirut vor knapp einem Monat sei ein „voller Erfolg“ gewesen und nun abgeschlossen. Hisbollah-Chef Hassan Nasrallah kündigte für den Abend eine Ansprache an.

Hinweise auf bewusste Taktik

Nasrallah und seine Offiziere müssen gewusst haben, dass sie mit ein paar Hundert Raketen gegen Israel nichts ausrichten würden. Dass der Angriff auf die Katjuschas begrenzt wurde, deutet auf eine bewusste Taktik der Miliz und des Iran nach den israelischen Anschlägen auf Schukr in Beirut und den Hamas-Chef Ismail Hanijeh in Teheran hin: Hisbollah und Iran müssen militärisch antworten, um ihre Glaubwürdigkeit im eigenen Lager zu erhalten und gegenüber Israel ein Mindestmaß an Abschreckung zu schaffen. Doch sie wollen ihre Antworten unterhalb der Schwelle eines Krieges halten, der für die Miliz im Libanon und für das Regime in Teheran existenzbedrohend werden könnte.

Der Iran belässt es bisher bei Drohungen. „Ihr werdet mit Gottes Hilfe gute Nachrichten über die Vergeltung hören“, sagte der Kommandeur der iranischen Revolutionsgarde, Hossein Salami, bei einem Termin mit Regimeanhängern.

Mit einer Vergeltung auf Raten könnten Hisbollah und Iran den Gegner Israel auf Wochen oder Monate hinaus zu einer ständigen Alarmbereitschaft zwingen, ohne einen Krieg gegen Israel und die USA loszutreten. Irans Revolutionsführer Ali Khamenei fürchte einen solchen Krieg, sagte der Iran-Experte und Buchautor Arash Azizi unserer Zeitung – „besonders angesichts des Konflikts zwischen Israel und der Hisbollah“.