Am Ende war es eine satte Mehrheit, mit der das ukrainische Parlament jenes Gesetz beschloss, das der Ukrainischen Orthodoxen Kirche (UOK) de facto ihre Legitimität entzieht. Präsident Selenskyj sollte später von einem „Gesetz für unsere geistliche Unabhängigkeit“ sprechen.
Die offizielle Ukraine beschuldigt die Kirche, die bis vor Kurzem zum Moskauer Patriarchat gehörte, Verbrechen gegen das ukrainische Volk zu rechtfertigen und mit dem Feind, dem Putin-Regime, sogar zu paktieren. Offiziell hat sich die UOK nach Beginn des russischen Angriffs für unabhängig erklärt. Doch das bezweifelt Kiew: Laut Expertengutachten des Staatsdienstes ist die Kirche nach wie vor eine Unterabteilung der russisch-orthodoxen Kirche.
Heiliger Krieg und göttliche Kraft
Und deren Position im Ukraine-Krieg ist klar: Er sei ein aus „spiritueller und moralischer Sicht heiliger Krieg“, formulierte das Moskauer Patriarchat im Frühjahr. Wenige Wochen später sprach Patriarch Kyrill I. Präsident Wladimir Putin bei dessen Vereidigung für seine fünfte Amtszeit sogar göttliche Legitimität zu: „Gott helfe Ihnen, den Dienst, den Gott selbst Ihnen anvertraut hat, weiterhin mit Liebe zum Vaterland und mit Mut fortzusetzen.“ Kyrill kennt Putin seit dessen Zeiten im Geheimdienst und soll selbst für den KGB spioniert haben.
Frage nach Religionsfreiheit
Bis Sommer nächsten Jahres haben die Gläubigen der rund 10.000 UOK-Gemeinden nun Zeit zu konvertieren – und zwar zur nationalen Orthodoxen Kirche der Ukraine (OKU), die weiterhin legal ist. Moskaus Antwort darauf war wenig überraschend: „Das Ziel ist, die zutiefst kanonische, wahre Orthodoxie zu vernichten“, ließ das Außenamt ausrichten. Und für Parlamentsmitglied Olga Timofejewa verletze der ukrainische Staat damit das Recht seiner Bürger auf Religionsfreiheit.
Zwischen Recht und Radikalisierung
Doch auch westliche Beobachter sehen das neue Gesetz kritisch: Einfache Gläubige sollen nicht gezwungen werden, sich für oder gegen eine Kirche zu entscheiden, meint etwa Regina Elsner, Professorin für Ostkirchenkunde in Münster. „Mit dem Gesetz wird eine Stimmung gefördert, die sich gegen eine doch große Gruppe in der Gesellschaft richtet“, fürchtet sie. Und diese Spaltung könne für das angegriffene Land gefährlich sein. Außerdem könnte es sein, dass die Betroffenen nicht ihrer Kirche abschwören, sondern vielmehr in den Untergrund gehen und einige sich eventuell radikalisieren. Wobei Elsner betont: Es gebe klare Fälle der Kollaboration mit Russland unter den Bischöfen und Priestern der UOK. Und: „Das Recht der Ukraine ist unbenommen, für ihre Sicherheit zu sorgen.“
Weltkulturerbe als Streitfall
Die UOK selbst blickt auf eine lange Tradition im Land zurück: Zuerst Teil der Russisch-orthodoxen Kirche verwaltet sie sich seit dem Ende der Sowjetunion selbst. Der Sitz des Patriarchats liegt im altehrwürdigen Höhlenkloster Lawra in Kiew, das aus dem 11. Jahrhundert stammt und die Wiege der ostslawischen Orthodoxie darstellt. Die Anlage selbst umfasst rund 140 Gebäude, einige davon sollen zuletzt ohne Genehmigung gebaut worden sein. Das nennt der ukrainische Staat zumindest als offiziellen Grund, warum er den kirchlichen Nutzungsvertrag für das Kloster auflösen will.
Wiege des ostslawischen Christentums
Die nationale Orthodoxe Kirche der Ukraine (OKU) wurde 2019 von Patriarch Bartholomaios I. von Konstantinopel, Ehrenoberhaupt der Weltorthodoxie, anerkannt. Moskau sah den Erlass als Einmischung in „innerrussische Kirchenangelegenheiten“, denn das Patriarchat sieht Russland, Weißrussland und die Ukraine grob gesagt als ein Kirchengebiet – auch weil die Taufe der „Kiewer Rus“ im Jahr 998 den Beginn der großen Geschichte des Christentums im gesamten Gebiet markierte.
„Symphonie zwischen geistlicher und weltlicher Macht“
Ein halbes Jahrtausend später folgte übrigens der Aufstieg Moskaus innerhalb der Orthodoxie: Nachdem die Osmanen Konstantinopel (heute: Istanbul) erobert hatten, verlor dessen Patriarch massiv an Macht. Heute werden dieser Kirche nur noch vier Millionen Gläubige zugerechnet. Die Russisch-orthodoxe Kirche hingegen bildet mit 100 Millionen Gläubigen die größte Gruppe. Und diese Größe bringt sie im Machtpoker immer wieder ins Spiel: gegenüber anderen orthodoxen Kirchen, aber auch in Russland, wo sie mit dem Staat eine „Symphonie von geistlicher und weltlicher Macht“ lebt – und sie etwa den Ukraine-Krieg religiös legitimiert.