Knapp sieben Stunden und fünfzig Minuten vergingen diesmal, bis Entwarnung gegeben wurde. Einen längeren Luftalarm haben die Menschen in Kiew bisher nur einmal erlebt. Der russische Angriff am Montag hat aber nicht nur außergewöhnlich lang gedauert, er war auch einer der umfangreichsten seit Kriegsbeginn. 15 der 24 Regionen der Ukraine wurden mit Raketen, Marschflugkörpern und Drohnen attackiert, neben großräumigen Stromausfällen meldeten die ukrainischen Behörden auch einen Treffer an der Staumauer eines nördlich von Kiew gelegenen Wasserkraftwerks.
Überraschend kam der Angriff, der mehrere Tote forderte, nicht. Seit dem Vorstoß der eigenen Truppen über die russische Grenze, rechnen die Menschen in der Ukraine damit, dass Moskau die schon lange laufende Luftkampagne gegen die kritische Infrastruktur als Vergeltung nochmals deutlich verstärkt.
Russen starten in Kursk kaum Gegenangriffe
Dass die ukrainische Offensive in der Region Kursk die Dynamik des Krieges mittelfristig verändern wird, ist unbestreitbar – in welche Richtung diese Veränderung zielt, ist aber noch unklar. Denn eine kritische Kosten-Nutzen-Analyse der Offensive ist derzeit schwierig zu erstellen. Es gibt viele Unbekannte und das gesamte operationelle Bild ist sehr dynamisch.
Was man aber sagen kann, ist folgendes: Das laut Präsident Wolodymyr Selenskyj erklärte Ziel der Offensive, eine Pufferzone zu errichten und so viele russische Gefangene wie möglich zu machen, mag legitim sein, doch es bleibt die Frage, ob es sich lohnt, eine solche Zone mit Kräften zu errichten, die an anderer Stelle benötigt werden könnten. Die Kräfte im Raum Kursk, die bis zu 15.000 Mann stark sind, können von den Ukrainern nicht zur Verteidigung oder als operative Reserve eingesetzt werden, um russische Durchbrüche an anderen Teilen der Front zu verhindern.
Der Vormarsch hat sich in den letzten Tagen verlangsamt, weil die Ukrainer versuchen, ihre Positionen zu festigen und eine Überdehnung ihrer Nachschubwege zu vermeiden. Die Operation war immer als begrenzte Offensive gedacht, ohne die Absicht, unbegrenzt in russisches Gebiet vorzudringen. Auch wenn die anfänglichen ukrainischen Erfolge beeindruckend sind und möglicherweise die peinlichsten Verluste für den Kreml in diesem Krieg darstellen, ist es unwahrscheinlich, dass Russland in Kursk eine vernichtende Niederlage erleiden wird. Derzeit scheint Russland abzuwarten, welche zusätzlichen Truppen die Ukrainer in die Region verlegen werden. Es gibt nur begrenzte Gegenangriffe, vor allem aus der Luft und durch Spezialkräfte.
Die Tatsache, dass es den Russen bisher nicht gelungen ist, die Ukrainer zu vertreiben, sagt wenig über ihre Kampfkraft aus. Dies wird erst deutlich, wenn Russland mit größeren Verbänden zu einem Gegenangriff ansetzt. Dies könnte jedoch noch einige Zeit dauern und hängt letztlich von der Führung im Kreml ab, und wie sie sich entscheidet. Ein großer russischer Gegenangriff – sei es in Tagen oder in Wochen – wird aber wohl weniger ein Blitzkrieg sein, als ein allmählicher, methodischer und feuerintensiver Gegenstoß.
Wie groß sind die Reserven der Ukraine?
Die entscheidende Frage ist, ob die Russen gleichzeitig im Donbas vorrücken und den ukrainischen Vorstoß in Kursk unterdrücken können. Die Russen könnten hier nach einer Strategie „Donbas zuerst“ vorgehen. Dies würde bedeuten, dass sie die wichtigen Städte Pokrowsk, Torske und Chassiv Jar erobern, diese Gewinne konsolidieren und erst dann Truppen nach Kursk verlegen. Ich frage mich daher vor allem, wie groß die operativen Reserven der Ukraine sind.
Die Ukrainer werden wahrscheinlich versuchen, das bereits eroberte Gebiet zu halten und zu erweitern. Sie müssen ihre Positionen sichern und ihre Nachschubwege verteidigen. Aus rein taktischer Sicht wird das russische Sudscha für die Behauptung der Geländegewinne entscheidend sein. Wer auch immer diese Stadt hält, kontrolliert wichtige Verkehrsverbindungen. Daher erwarte ich, dass die Ukrainer ihre Positionen an der östlichen Flanke des eroberten russischen Gebiets stark befestigen werden, sollten sie beschließen, an den jüngsten Gewinnen festzuhalten. Wie lange die Ukrainer das eroberte Gebiet halten können, hängt aber auch von Nachschub und Logistik ab.
Ob eine längerfristige Besetzung für die Ukraine von Vorteil ist, ist unklar, obwohl die Operation sicherlich einen immensen positiven Schub für die Ukraine auf politischer Ebene und im Informationsraum darstellte. Die Geschichte des Krieges bietet jedoch auch Beispiele dafür, dass auf Nebenschauplätze zu viel riskiert wurde. Der operationelle Schwerpunkt liegt weiterhin im Donbas, und die Eroberung dieser Region ist das unmittelbarste Kriegsziel Russlands. Die Lage dort ist ziemlich kritisch. Die Russen rücken auf Pokrowsk vor und stehen vor der letzten Verteidigungslinie. Wenn Pokrowsk fällt, können die Russen die günstige Position nutzen, um andere Städte im Donbas zu bedrohen, darunter Kramatorsk.
Auf strategischer Ebene wird es für die Ukraine zudem von Bedeutung sein, die russische Angriffskampagne auf die kritische Infrastruktur erfolgreich abzuwehren, um einen Massenexodus im Winter zu vermeiden. Die Luftverteidigung ist auch der Bereich, in dem die westliche Hilfe am dringendsten benötigt wird.