Ein Feuer in einem Atomkraftwerk – ein Bild, das für Unruhe sorgt. Eine Woche nach dem ukrainischen Angriff auf die russische Grenzregion Kursk, der die Verletzlichkeit Russlands offenbarte, brach am Sonntagabend ein Brand in einem Kühlturm des ukrainischen Kernkraftwerks in Saporischschja aus. Die Ukraine beschuldigt Russland. Laut der Militäradministration Nikopol hätten russische Besatzer Reifen im Inneren des Turms angezündet. Russland nennt hingegen ukrainischen Beschuss als Ursache.
Druckmittel für beide Seiten
Wer genau dahinter steckt und was passiert ist, lässt sich aktuell nicht unabhängig überprüfen. Allerdings passen die Vorgänge in ein gewisses Muster: Das russisch besetzte Kraftwerk wird immer wieder als Druckmittel genutzt. Russland geriet durch den Angriff aus Kursk in eine Position der Schwäche. Mit einer erneuten Gefahrensituation in Saporischschja kann Moskau jederzeit Druck auf den Westen ausüben, der einen nuklearen Unfall vermeiden will. „Seit dem ersten Tag der Besatzung hat Russland das Saporischschja-Kernkraftwerk dazu genutzt, die Ukraine, ganz Europa und die Welt zu erpressen“, sagt der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj dazu am Sonntag auf X. Allerdings nutzt auch Kiew das Kraftwerk als Druckmittel, um die westliche Aufmerksamkeit auf den Konflikt und die russische Gefahr aufrechtzuerhalten.
Das Kernkraftwerk Saporischschja ist mit sechs Reaktoren das größte Atomkraftwerk Europas. Kurz nach Beginn des Ukraine-Kriegs wurde es von russischen Soldaten besetzt. Seither warfen sich beide Seiten immer wieder vor, das Gelände zu beschießen. Russland ließ noch im Jahr 2022 eine Inspektion der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) zu, seitdem überwachen dauerhaft IAEA-Experten die Lage vor Ort. Aufgrund der angespannten Sicherheitslage wurden die Reaktoren damals heruntergefahren, müssen jedoch nach wie vor gekühlt werden.
Kein zweites Tschernobyl
Die Druckwasserreaktoren sowjetischer Bauart können jedenfalls nicht so leicht beschädigt werden. Sie sind durch eine dicke Stahlbetonschicht geschützt und können sogar den Absturz von kleinen Flugzeugen oder auch Explosionen im Inneren überstehen. Sprengsätze oder Artilleriebeschuss allein könnten daher kaum Schaden anrichten. Heikler ist die Lage der Atommüllzwischenlager in der Nähe der Reaktoren: Über 170 Behälter aus Beton stehen unter freiem Himmel und würden Artillerieangriffen kaum standhalten. Bei einem Treffer könnte Radioaktivität freigesetzt werden. Die Folgen wären jedoch örtlich begrenzt.
Ein zweites Tschernobyl mit gravierenden Auswirkungen für den Kontinent ist derzeit äußerst unwahrscheinlich. Die österreichische Abteilung Strahlenschutz im Umweltministerium geht selbst im „allerschlimmsten Fall“ einer nuklearen Katastrophe davon aus, dass für Österreich nur landwirtschaftliche Maßnahmen notwendig wären. In keinem Szenario sei die Einnahme von Kaliumiodid-Tabletten erforderlich.
Trotzdem warnen Experten vor Kämpfen in der Nähe des Kraftwerks. IAEA-Chef Rafael Grossi sprach am Montag in Bezug auf den jüngsten Brand von „rücksichtslosen Angriffen“, sprach aber keine Schuldzuweisung aus. „Jedes Feuer auf dem Gelände oder in seiner Umgebung birgt das Risiko, dass es auf sicherheitskritische Einrichtungen übergreift“, warnte der Leiter der Behörde. Solange diese Gefahr besteht, wird Russland sie nach ukrainischer Einschätzung für seine Zwecke missbrauchen. Gegenüber dem Einsatz von taktischen Atomwaffen ist das Kraftwerk in Saporischschja eine kleinere nukleare Eskalationsschraube, der sich Moskau im Falle weiterer ukrainischer Erfolge auf dem Schlachtfeld bedienen kann.