Die Terrororganisation Islamische Staat (IS), auf die sich die Terrorverdächtigen von Wien berufen, befindet sich im Nahen Osten nach seiner zwischenzeitlichen Zerschlagung derzeit wieder im Aufwind. Der IS profitiert vom Gaza-Krieg zwischen Israel und der Hamas, obwohl er sich aus dem Konflikt heraushält: Je länger der Krieg dauert, desto stärker werden die IS-Extremisten im Irak und in Syrien. Sie verüben mehr Anschläge und können mehr Kämpfer anwerben als 2023.
Der IS kontrollierte auf dem Höhepunkt seiner Macht 2014 und 2015 weite Teile von Irak und Syrien und zog zehntausende Extremisten aus aller Welt an. Seitdem hat eine internationale Kriegsallianz unter Führung der USA mehrere IS-Anführer getötet. Vor fünf Jahren verlor das „Kalifat“ der Dschihadisten das letzte Stück Land, das es kontrollierte. Die überlebenden Kämpfer des IS zogen sich in Syriens Wüste zurück. Dort formieren sie sich neu. Der UN-Syrienbeauftragte Geir Pedersen betonte, die Welt müsse gegen die wachsende Terror-Gefahr zusammenstehen. Davon ist aber nichts zu sehen.
2500 IS-Kämpfer
IS-Kämpfer haben seit Jahresbeginn in Syrien mehr als 160 Anschläge verübt, wie die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte mitteilte; dabei starben mehr als 600 Menschen. Wenn sich der Trend fortsetze, werde sich die Zahl der IS-Gewalttaten in Syrien und im Irak heuer im Vergleich zu 2023 verdoppeln, so das US-Militär. Die Truppenstärke des IS lag im April bei 2500 Kämpfern: Nur ein Bruchteil der 40.000 Kämpfer, die einst dem IS folgten, aber mehr als doppelt so viele wie im Jänner.
Bei der Rekrutierung zeigt sich, wie der IS den Gazakonflikt nutzt, ohne sich in den Krieg einzumischen. Gruppen wie der IS haben „von der Unzufriedenheit über die wahrgenommene Untätigkeit der muslimischen und arabischen Länder und die eindeutige Unterstützung des Westens für Israel profitiert“, sagt Dincer. „Dies schafft einen fruchtbaren Boden für radikale Narrative, stärkt ihre Attraktivität und erleichtert die Rekrutierung.“ Auch dass sich der 19-jährige Terrorverdächtige in Wien per Internet vom IS radikalisieren ließ, spricht für die Attraktivität der Extremisten in islamistischen Kreisen, betont er.
Kalifat
Der Gaza-Krieg hat Gegner Israels von den Huthis im Jemen bis zur Hisbollah im Libanon auf den Plan gerufen. Sie greifen Israel an, um der Hamas zu helfen. Der IS hat daran kein Interesse: Es gab bisher weder IS-Angriffe auf Israel noch Gewaltaktionen, die vom IS als Unterstützung für die Hamas präsentiert wurden. IS-Stellungnahmen zum Gaza-Krieg wirkten wie Pflichtübungen, sagt Osman Bahadir Dincer von der Denkfabrik Bicc in Bonn.
Die Zurückhaltung liege auch daran, dass die Beziehungen des IS zur Hamas „nicht sehr eng, teils sogar feindlich“ seien. Beide Gruppen sind zwar radikalislamische sunnitische Organisationen, doch die Hamas strebt die Errichtung eines Palästinenserstaates gegen israelischen Widerstand an, während der IS ein transnationales „Kalifat“ schaffen will.