Lange musste die Ukraine für ihre Verteidigung auf die von ihren westlichen Partnern versprochenen F-16-Kampfjets warten; kürzlich hat der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj mitgeteilt, dass die ersten Jets in den Dienst gestellt worden seien. Es dürfte sich vorerst nur um etwa zehn Flugzeuge handeln, diese Zahl könnte sich später auf bis zu 80 Jets erhöhen. Werden sie die Wende im Krieg in der Ukraine bringen?
Aus jetziger Sicht werden die F-16 2024 und 2025 nur begrenzten Einfluss auf das Kampfgeschehen haben. Erstens wegen ihrer limitierten Anzahl. Die USA haben erst vor einem Jahr ihre Zustimmung zu einer Lieferung gegeben, danach fehlte es lange an Ausbildungskapazitäten für die Piloten.
Zweitens wegen der limitierten Leistung der Bord-Radarsysteme: So haben das zur Verfügung gestellte Radarsystem wie auch die Luft-Luft-Raketen eine noch zu geringe Reichweite. Diese werden es nicht ermöglichen, im Luftkampf gegen russische Kampfflugzeuge, die im Schutzschirm der russischen Flug- und Raketenabwehr operieren, zu bestehen oder auch nur russische Kampfflugzeuge abzuschrecken. Das wäre wichtig gewesen, weil diese Gleitbomben abwerfen, die sehr viel Zerstörung in der Ukraine angerichtet haben und auch psychologisch die ukrainischen Truppen an der Front zermürben.
Russische Raketen abwehren
Drittens hat die Ukraine noch nicht gezeigt, dass sie diese Flugzeuge effektiv integrieren kann. Das Schwierige an diesen Operationen ist nämlich, die bodengestützte Flug- und Raketenabwehr abzustimmen mit dem Einsatz der Kampfjets. Hier muss dafür gesorgt werden, dass es nicht zu Friendly-Fire-Angriffen kommt, bei denen nicht erkannt wird, ob es sich um ein gegnerisches oder ein eigenes Flugzeug handelt. Diese Koordinationsprobleme müssen noch gemeistert werden. In diesem und im nächsten Jahr werden die F-16 daher aus meiner Sicht keinen großen Einfluss auf das Kampfgeschehen haben. Anzunehmen ist aber, dass die Jets im Hinterland der Ukraine bei der Abwehr russischer Raketen und Drohnen einen wichtigen Beitrag zur Luftverteidigung leisten werden.
Der Abnützungskrieg geht mit unverminderter Härte weiter. Besucht man Frontabschnitte, ist man immer wieder mit ähnlichen Eindrücken konfrontiert: Krankenwagen, die Verwundete transportieren; Artillerie, die kontinuierlich feuert und deren Einschläge mitunter den Boden beben lassen; die allgegenwärtige Präsenz von Drohnen am Himmel und das Summen ihrer Rotorblätter. Die Lage an der Front ist nach wie vor angespannt. Die Ukrainer müssen mit weiteren Gebietsverlusten rechnen. Ein katastrophaler Zusammenbruch der Front wird zwar immer unwahrscheinlicher, aber die russische Offensive ist noch nicht gescheitert.
Munition und Mobilisierung
Zu Beginn des Jahres diagnostizierte ich der Ukraine drei Hauptdefizite: mangelnde Munition, mangelnde Verteidigungsstellungen und mangelndes Personal. In allen drei Bereichen hat es zuletzt positive Entwicklungen gegeben. Munition wird von westlichen Partnern nun wieder verstärkt geliefert, der russische Vorteil bei der Feuerrate der Artillerie wurde sukzessive reduziert. Auch neue Verteidigungsstellungen werden entlang der Frontlinien und um gefährdete Städte wie Charkiw errichtet und ausgebaut. Eine neue Mobilisierungswelle verspricht in den kommenden Wochen eine Entlastung für die Soldaten an der Front, wenngleich in manchen Einheiten das Durchschnittsalter eines Infanteristen 45 Jahre beträgt. Das hat Auswirkungen, wenn man schnelle Gegenangriffe durchführen will. Die Moral der Truppe ist zwar hoch, aber sie ist sehr erschöpft. Gleichzeitig sind auch die russischen Verluste bereits sehr hoch, ihre Kampfkraft wird darunter leiden. Es ist zwar Erschöpfung spürbar, die Offensive dürfte aber trotzdem erst im Herbst abflauen.
Sollten weder die Front noch die ukrainische Flugabwehr in den kommenden Monaten kollabieren, steigen die Chancen, dass Russland 2025, aufgrund der hohen Abnutzung der russischen Streitkräfte und fehlender strategischer Erfolge, erstmals ernsthaft Verhandlungen mit der Ukraine in Erwägung ziehen wird. Vielleicht ein kleiner Lichtblick. Bis dahin ist jedoch noch ein langer, blutiger Weg.