Regierungschef Benjamin Netanyahu sieht Israel in einem „Vielfrontenkrieg gegen Irans Achse des Bösen“. Zugleich warnte er die Führung in Teheran und deren Verbündete vor „jeder Art von Aggression“ gegen sein Land. Israel sei auf jede Entwicklung vorbereitet. Nach der gezielten Tötung des Hamas-Auslandschefs Ismail Haniyeh in Teheran hat der Iran, der Israel das Existenzrecht abspricht, mit massiver Vergeltung gedroht. Es wird ein Flächenbrand in der Region befürchtet.

Ein solcher drohte bereits nach dem 14. April, als die iranischen Revolutionsgarden beim ersten direkten Angriff von iranischem Boden aus Hunderte Drohnen und Raketen auf Israel abfeuerten. Die meisten der Geschosse konnte Israel damals aus eigener Kraft und mithilfe der USA und anderer Verbündeter abfangen. Israels Gegenschlag fiel relativ klein aus. Die damalige iranische Attacke war einem Israel zugeschriebenen Angriff auf das iranische Botschaftsgelände in der syrischen Hauptstadt Damaskus gefolgt, bei dem zwei iranische Generäle getötet worden waren.

Zur Frage, ob Israel auch Haniyeh gezielt getötet hat, äußerte sich die Regierung in Jerusalem bisher nicht offiziell. Aktuell erklärte Netanyahu, der einer extremen rechtsreligiösen Regierung vorsitzt: „Ich bekräftige und sage unseren Feinden: Wir werden reagieren und einen hohen Preis auferlegen.“

Tötung des Hamas-Anführers dürfte Abkommen erschweren

Das Szenario eines möglichen regionalen Flächenbrands zeichnet sich auch ab, seitdem der Hamas-Auslandschef Ismail Haniyeh und der Hisbollah-Kommandant Fuad Shukr, zwei hochrangige Feinde Israels, Opfer tödlicher Anschläge wurden. Den Angriff auf Shukr reklamierte Israel für sich, zum Anschlag auf Haniyeh äußerte es sich bisher nicht.

Die Tötung von Hamas-Anführer Haniyeh in Teheran könnte es nach Einschätzung von US-Präsident Joe Biden erschweren, ein Abkommen über einen Waffenstillstand und die Freilassung der Geiseln aus der Hand der islamistischen Hamas zu erreichen. Die „New York Times“ berichtete unter Berufung auf einen US-Beamten, Biden habe in einem Telefonat mit dem israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanyahu beklagt, dass die Tötung Haniyehs zu einem ungünstigen Zeitpunkt erfolgt sei - und zwar in einem Moment, in dem die USA gehofft hätten, die Gespräche abschließen zu können.

Außerdem habe Biden die Befürchtung geäußert, dass die Durchführung der Operation in Teheran einen größeren Krieg in der Region auslösen könnte, schrieb das Blatt. Auch öffentlich hatte Biden zuletzt Unmut erkennen lassen. Auf die Frage, ob die Tötung Haniyeh die Chance auf eine Waffenruhe im Gaza-Krieg zunichtegemacht habe, sagte der US-Präsident vor wenigen Tagen schmallippig: „Das hat nicht geholfen.“

Netanyahu wies Vorwürfe zurück, er habe die Gespräche über eine Waffenruhe im Gazastreifen und die Freilassung israelischer Geiseln durch die Hamas mit immer neuen Forderungen torpediert. „Das genaue Gegenteil ist der Fall. Die schlichte Wahrheit ist, dass die Hamas bisher nicht einmal den grundlegendsten Bedingungen des Entwurfs zugestimmt hat“, sagte er nach Angaben seines Büros. Während Israel dem ursprünglichen Entwurf „keine einzige Forderung hinzugefügt“ habe, fordere die Hamas Dutzende von Änderungen. „Ich bin bereit, sehr weit zu gehen, um alle unsere Geiseln freizubekommen und gleichzeitig die Sicherheit Israels zu wahren“, fügte Netanyahu hinzu.

Israelischer Angriff am Sonntag

Unterdessen kamen bei einem israelischen Angriff im Gazastreifen am Sonntag der palästinensischen Nachrichtenagentur WAFA zufolge mindestens 30 Menschen ums Leben. Es handle sich laut der Hamas-kontrollierten Gesundheitsbehörde um geflohene Menschen (“Hauptsächlich Frauen und Kinder“), die in zwei Schulen Schutz gesucht hätten. Zudem habe es rund 50 Verletzte gegeben. Israels Militär erklärte, die Hamas habe Stellungen in den Schulen gehabt.

Zuvor war von einem israelischen Luftangriff auf ein Zelt innerhalb des Geländes des Al-Aksa-Krankenhauses die Rede gewesen, bei dem nach palästinensischen Angaben mindestens fünf Menschen getötet wurden. Mindestens 18 weitere Menschen seien verletzt worden, teilte die von der radikal-islamischen Palästinenser-Organisation Hamas kontrollierte Gesundheitsbehörde mit.

Der Angriff habe zudem ein Feuer ausgelöst. Das israelische Militär erklärte, es habe einen militanten Extremisten angegriffen, der „Terroraktivitäten“ unternommen habe. Danach sei es zu Folgeexplosionen gekommen, was darauf hindeute, dass in dem Bereich Waffen gewesen seien.

Israels Sicherheitsbehörden in höchster Alarmbereitschaft

Vor dem Hintergrund massiver Angriffsdrohungen seiner Erzfeinde sind Israels Sicherheitskräfte Berichten zufolge in höchster Alarmbereitschaft. Man rechne damit, dass die vom Iran und der libanesischen Schiiten-Miliz Hisbollah angedrohten Attacken „über mehrere Fronten“ erfolgen werden, berichtete der israelische Fernsehsender Channel 12 am Sonntag.

Als Hinweis auf einen möglicherweise kurz bevorstehenden Angriff des Irans und verbündeter Milizen in anderen Ländern der Region war die Ankunft des Oberbefehlshabers des US-Regionalkommandos Centcom, General Michael Erik Kurilla, in Israel gewertet worden. Das berichtete das US-Nachrichtenportal „Axios“. Kurilla war auch kurz vor dem iranischen Großangriff im April nach Israel gereist.

Die israelische Führung diskutiere derzeit über mögliche Antworten auf eine derartige konzertierte Angriffshandlung. Diese beinhalteten „die Bereitschaft, in diesem Zusammenhang in einen allumfassenden Krieg einzutreten“, hieß es bei Channel 12. Indes wurde die GPS-Nutzung in größeren Teilen Israels gestört. Betroffen seien nicht mehr nur grenznahe Gebiete zum Libanon, sondern auch bevölkerungsreiche Regionen im Zentrum des Landes, berichteten die Zeitung „Times of Israel“ und das Nachrichtenportal Ynet am Sonntag unter Berufung auf Nutzer.

Unklar bleibt, wann der angedrohte Vergeltungsschlag erfolgen könnte. In den Erklärungen Teherans und der Hisbollah ist immer wieder von den „nächsten Tagen“ die Rede. Israel kann mit der Unterstützung der USA, die bereits weitere Kampfflugzeuge und Marineschiffe in die Region entsendeten, und anderer Verbündeter rechnen.

Jordanien und Ägypten versuchen zu vermitteln

US-Präsident Joe Biden und andere Regierungsmitglieder von Israels wichtigstem Verbündeten sehen den Schlüssel zur Deeskalation in einem Waffenruheabkommen für den seit fast zehn Monaten andauernden Gaza-Krieg. Die indirekten Verhandlungen dafür, bei denen die USA, Ägypten und Katar vermitteln, kommen jedoch nicht voran. Die jüngste Gesprächsrunde mit israelischen und ägyptischen Teilnehmern am Samstag in Kairo brachte keine Fortschritte, wie israelische Medien berichteten.

Am Sonntag reiste außerdem der jordanische Außenminister Ayman Safadi nach Teheran. Er wolle im Gespräch mit dem geschäftsführenden Außenminister des Irans, Ali Bagheri Kani, das Land von einer militärischen Aktion gegen Israel abbringen, hieß es in lokalen Medienberichten. Ägyptens Außenminister Badr Abdelatty drängte nach offiziellen Angaben aus Kairo in einem Telefonat mit Kani darauf, dass alle Parteien Ruhe und Zurückhaltung üben müssen, damit die Lage nicht außer Kontrolle gerate. Iranischen Medienberichten zufolge lehnt der Iran bisher alle Vermittlungsversuche ab.

Der Iran und die Hamas machen den jüdischen Staat für dessen Ermordung verantwortlich und drohen mit einem harten Vergeltungsschlag. An diesem würden sich auch die mit dem Iran verbündeten Milizen in der Region beteiligen, sagte der Kommandant der iranischen Revolutionsgarden (IRGC), General Hussein Salami. Zu den nicht-staatlichen Verbündeten des Irans zählen neben der Hamas im Gazastreifen auch die Huthi im Jemen und die Hisbollah-Miliz im Libanon. Auch im Irak und Syrien gibt es Iran-treue Milizen.